60 Jahre Produktion mit Prinzipien
Über ein kleines Unternehmen, das mit bleibenden Werten seinen eigenen Weg geht
Worte: Dr Jana Scholze
Fotos: Vitsœ
„Es war ein schwieriger Weg, über all die Jahre…“ Mit diesen Worten fasst Dieter Rams im Gespräch mit Vitsœs Geschäftsführer Mark Adams die 60 Jahre seit der Gründung von Vitsœ am 4. September 1959 zusammen.
Rams betont: „Es war nie einfach, etwas zu versuchen, was noch niemand zuvor getan hatte.“ Damit zielt er auf die tägliche Herausforderung, dem vorherrschenden Denken voraus zu sein oder eben: anders zu denken. Vitsœ begegnet dieser Herausforderung nicht nur im Design seiner Möbel, sondern auch in der Zusammenarbeit mit seinen Zulieferern und, vor allem, durch den direkten Vertrieb an Kunden weltweit. Vitsœ steht für eine Idee von Design, das nicht weniger gestaltet als die Art und Weise, wie wir unser Leben in und mit der Welt um uns herum leben.
Vitsœ verkörpert dabei jedoch weder eine totalitäre Sichtweise auf gutes Design noch eine Lifestyle-Entscheidung. Die Möbel rein als Form und Funktion zu begreifen, verfehlt die fundamentale Bedeutung der Ethik, die seit den Anfängen von zentraler Bedeutung für das Unternehmen ist. Auch wenn Vitsœ heute für die Herstellung von Regalen bekannt ist, entworfen vom renommierten deutschen Designer Dieter Rams, hat sich das Unternehmen nie ausschließlich als Möbelhersteller definiert. Ebenso wenig war es an einem Geschäftsmodell interessiert, das auf Steigerung des Umsatzes ausschließlich zum finanziellen Nutzen zielt.
Als Antwort auf die Kritik, dass Vitsœ (und zuvor Braun) über ihren gemeinsamen Chefdesigner Dieter Rams einen totalitären Zugang zu Gestaltung und das „individuelle Genie“ favorisieren, argumentiert Designhistoriker Peter Kapos: „Wir könnten stattdessen von einem Moment in der Entfaltung eines kollektiven Projekts sprechen, das sich als alternatives Freiheitsmodell begreifen lässt.“*
Diese Haltung – und ihre Herausforderung durch den Markt – lassen sich am besten verstehen, wenn wir in die späten 1950er Jahre zurückblicken, insbesondere nach Westdeutschland, wo Vitsœ gegründet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich mit der Entschlossenheit, das Land wieder aufzubauen, die ersten Anzeichen des bevorstehenden Wirtschaftswunders. Design und Technologie hatten während des Krieges eine intensive Entwicklung erfahren und wurden nun dazu genutzt, das häusliche und öffentliche Umfeld umzugestalten.
Das Ausmaß der Zerstörung in Deutschland und den meisten europäischen Ländern führte in allen Lebensbereichen – von Gebäuden und Straßen bis hin zu Möbeln und Haushaltsgeräten – zu einer Nachfrage nach Neuem. Während in den 1950er Jahren die Beseitigung der Trümmer und die Wahrung der Sicherheit der Bürger im Vordergrund standen, lautete die Aufgabe in den 1960ern, Gegenwart und Zukunft neu zu formen. Bürger wurden zu Kunden, Nationen zu Märkten.
Amerikanisches Design wurde, propagiert von den Vereinigten Staaten im Rahmen des Marshall-Plans, zum bevorzugten Modell für eine neue Lebensweise: Erleichterung der Hausarbeit durch neue Geräte wie Waschmaschine und Staubsauger, unmittelbarer Informationsaustausch über die neuen Medien Radio und Fernsehen sowie schnellere Bewegung durch neue Transportmittel wie Autos und Flugzeuge. Der Krieg hatte jedoch auch das Bewusstsein für das zerstörerische Potential von Design und damit die Bedeutung der Ethik für Entscheidungen über seine Anwendung und Verbreitung geschärft.
Die Ulmer Hochschule für Gestaltung, die 1953 gegründet wurde und oft als das Bauhaus des Nachkriegsdeutschlands bezeichnet wird, förderte ein ganzheitliches Designverständnis: Ihr multidisziplinäres Ausbildungsangebot umfasste auch Fächer wie Politik, Wirtschaft, Soziologie und Philosophie. Dieser fortschrittliche Ansatz definierte Design nicht nur als eine Frage von Ästhetik und Technologie, sondern auch des Verständnisses für sein Potenzial und seine Auswirkungen auf den Einzelnen, die Gesellschaft und die Welt im Allgemeinen.
Um dieses Systemdenken im Unterricht zu verankern, pflegte die Schule enge Beziehungen zur Industrie - mit Braun als berühmtes Beispiel. Vitsœ hat nicht direkt mit der Hochschule Ulm zusammengearbeitet, aber Unternehmensgründer Niels Vitsœ war mit der Arbeit dort sehr vertraut.
Die Philosophie der Ulmer Schule spiegelt sich in der Absicht von Vitsœ, die Unternehmenswerte Klarheit, Ordnung und Ehrlichkeit in den Produkten selbst zu vermitteln: Das Objekt muss ein Verständnis dafür transportieren, was es ist. Ohne Verkleidung, ohne Verwirrung. Es muss einfach zu bedienen sein und dabei möglichst wenig Aufmerksamkeit für sich selbst beanspruchen. Vor allem sind Form und Anwendung der Möbel immer mit der Frage verbunden: Warum brauchen Menschen diese Gegenstände überhaupt? Und wie lassen sie sich am besten herstellen?
Diese rationalen und funktionalen Prinzipien wurden oft fehlgedeutet als minimalistisch und kühl. In seiner jüngsten Dokumentation „Rams“ stellt der Filmemacher Gary Hustwit klar, dass es für Dieter Rams darum geht, „all die Objekte, auf die wir in unserem Leben angewiesen sind, in den Hintergrund zu stellen. All dieses Zeug – wie ein Radio oder ein Bücherregal – sollte sich in die Umgebung einfügen. Es leistet einen Job, ist also nützlich und funktional. Für ihn geht es darum, der Natur Vorrang vor all diesen anderen Dingen einzuräumen, und daher zu versuchen, all diese anderen Dinge so neutral und unauffällig wie möglich zu gestalten. Das ist ein wichtiger Aspekt seines Designs.“
Diese Neutralität betont die entscheidende Verbindung zwischen Form und Funktion, steht jedoch vor allem für eine Verantwortung, die die Auswirkungen des Produkts und seiner Produktion auf soziale Systeme, Hierarchien und vor allem die Umwelt berücksichtigt.
Seine Art des Denkens verbindet Rams – und damit Vitsœ – mit einem Diskurs, der in den 1960er Jahren wurzelt. Gestalter wie Viktor Papanek äußerten Kritik daran, dass Design allein als Instrument zur Stimulierung und Steigerung des Konsums verstanden wurde – und an den Auswirkung einer solchen Massenproduktion auf die Welt. Papanek konstatierte in seinem wegweisenden Buch „Design für die reale Welt: Anleitungen für eine humane Ökologie und sozialen Wandel“, dass die Designpraxis zur Manipulation des Stils zu verkümmern schien, während ihr Potenzial zur Verbesserung des Lebens ignoriert wurde.
Papaneks Studie könnte nicht enger mit den Grundprinzipien von Vitsœ übereinstimmen, da sie Rams’ These des „Weniger, aber besser“ vertritt und gleichzeitig die Verantwortung für die Auswirkungen von Produktion und Verbrauch auf den Einzelnen, die Gesellschaft und die Welt anerkennt. Für Vitsoe ist es seit 60 Jahren eine Herausforderung, diesen Prinzipien treu zu bleiben und sich so gegen ein vorherrschendes Wirtschaftssystem und soziale Verhaltensweisen zu stellen.
Mark Adams berichtet, dass sich seine Mitarbeiter gelegentlich unter Druck gesetzt fühlen von Kunden, die auf die sofortige Erfüllung ihrer Wünsche drängen – die alles und zwar jetzt sofort einfordern, ohne in die Planung ihrer Regale investieren zu müssen, aber dann auf die Freiheit drängen, ihr Produkt jederzeit zurückzusenden, wenn sie ihre Meinung ändern. Adams ist fest entschlossen, ein derart schnelles Kauf- und Ablehnungsverhalten auch unter dem Konkurrenzdruck von Wettbewerbern nicht zu akzeptieren, denn genau an dieser Stelle müsse die Ethik hinter Vitsœs Verständnis von gutem Design vermittelt werden.
Die Entscheidung, mit was wir uns umgeben möchten, sollte sorgfältig getroffen werden – mit Blick auf die Auswirkungen, die jedes neue Objekt, seine Herstellung und Verwendung auf die Welt haben. Bei der letzten Vitsœ-Firmensitzung überreichte Adams jedem Mitarbeiter ein Exemplar von Greta Thunbergs Buch „No one is too small to make a difference“. Sein Gedanke: In Situationen wie der oben beschriebenen könnte es vielleicht eine Hilfe sein. Vielleicht sind jetzt, nach 60 Jahren, mehr Unternehmen und Kunden – nicht Verbraucher – bereit, ein bisschen mehr wie Vitsœ zu denken und zu handeln.
*„Braun + Vitsœ: Total Design“, kuratiert von Peter Kapos, Ausstellungskatalog, 2018
Die in Ostdeutschland geboren Kuratorin Dr. Jana Scholze ist auf zeitgenössisches Design, kuratorische Praxis und Theorie spezialisiert. Nach mehr als zehn Jahren am Victoria and Albert Museum lehrt sie heute als Associate Professor im Master-Studiengang „Curating Contemporary Design“ an der Kingston School of Art in London.