Ein neues Leinenkleid
Wir haben das Sesselprogramm 620 neu eingekleidet: in Leinen. Die Autorin und Kuratorin Jane Audas hat für uns Probe gesessen.

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Dean Hearne

Worte: Jane Audas

Fotos: Dean Hearne

Es ist nicht Vitsœs Stil, mit Pauken und Trompeten die Fahnen in den Straßen von Leamington Spa zu schwenken, wenn es eine Produktneuheit zu verkünden gibt. Bei Vitsœ versteht man Design als Prozess, der schrittweise funktioniert. Wenn es einer Änderung bedarf, um die Leistung eines Produkts zu verbessern, denkt man sehr gründlich darüber nach, arbeitet am Entwurf – und ändert ihn dann. Aufgabe erledigt.

Aber manchmal ist eine Fanfare eben doch das passende Signal, um eine erfolgreiche Produktentwicklung anzukündigen, vor allem, wenn es sich dabei um die Erweiterung einer bewährten Produktlinie handelt. Immerhin ist eine Neuheit bei Vitsœ eine seltene Rarität. Daher darf ich freudig verkünden (Tada!), dass der beliebte Sessel 620 ein neues Kleid erhalten hat: Einen weicheren Leinenmantel in einer sorgsam ausgewählten Farbpalette, als Alternative zur klassischen Lederausstattung, die er seit 1962 trägt.

Der Lederbezug bleibt natürlich weiterhin erhältlich. Da Vitsœ aber im Laufe der Jahre im direkten Kundenkontakt häufig nach einer anderen Polsteroption für den 620 gefragt wurde, entschied man sich schließlich für Leinen (mehr über die Gründe lesen Sie weiter unten). Ein Leinenbezug verleiht diesem Sessel unbestritten eine weichere Anmutung. Er wirkt noch einladender, sanfter. Und es ist durchaus verständlich, dass nicht jeder, ob aus ethischen, ästhetischen oder anderen Gründen, einen Ledersessel kaufen oder darinsitzen möchte.

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Dean Hearne

Wie so oft hat sich Vitsœ viel Zeit genommen bis zu dieser Markteinführung. Niels Vitsœ hat von Anfang an daran gearbeitet, den 620-Sessel weiterzuentwickeln, und dabei stets sichergestellt, dass das Design mit älteren Versionen kompatibel blieb. Die Bezüge für den 620 waren schon immer austauschbar (zuhause von den Kunden selbst), auch wenn das zum Glück nicht oft von Nöten ist. Kunden, die bereits einen 620 (oder zwei) mit Lederbezug besitzen (vor 4 oder 40 Jahren gekauft), können diesen jetzt problemlos gegen Leinen austauschen.

Für einen so langlebigen Sessel ist Leinen ein überaus passender Stoff. Leder hält, Leinen auch. Als eines der ältesten Textilien ist Leinen seit vielen Jahrhunderten ein Stoff von Bedeutung. Es wurde von den Ägyptern schon vor über 2000 Jahren für Kleidung und viele andere Dinge gewebt. Ihre plissierten Gewänder spielten mit den Falten des dünnen, kühlen Leinens. Es blieb ein allgegenwärtiges Textil, bis es (im Laufe des 19. Jahrhunderts) allmählich von Baumwolle abgelöst wurde, deren Herstellung leichter zu mechanisieren war.

Foto: Victor Tonelli, mit freundlicher Genehmigung von CELC

Leinen wird aus den Zellulosefasern hergestellt, die in den Stielen der Flachspflanze oder Linum usitatissimum wachsen. Es gibt (fast) perfekte Regionen für den Anbau, zu denen Frankreich, Belgien und die Niederlande gehören, die über 75 % der weltweiten Flachsproduktion leisten. Leinen reagiert gut auf den stetigen Wechsel von Sonne und Regen in Westeuropa. Je dichter die Aussaat, desto feiner die Faser der hochwachsenden Pflanzen. Die so entstehenden langen Fasern machen Leinen zu einem robusten und haltbaren Stoff, der dem Tragen, Waschen und Verwitterung standhält.

Vitsœ war sich sicher, dass der neue Stoff für den 620 so umweltfreundlich wie möglich sein sollte. In punkto Nachhaltigkeit ist Flachs eine gute Wahl. Während des Wachstums absorbieren die Pflanzen CO2, benötigen nur minimale Bewässerung und wenig oder keine Pestizide. Allerdings wird das 620er-Leinen nicht 100 % biologisch gewonnen, da beim Flachsanbau Herbizide verwendet werden. Das Verfahren zur Herstellung von Leinen jedoch, das frei von Chemikalien funktioniert, ist komplett abfallfrei, sodass das 620 Leinen unter Cradle to Cradle Certified™-Bedingungen entsteht.

Die Teile der Flachspflanze, die nicht für die Stoffherstellung verwendet werden, kommen allesamt für andere Zwecke zum Einsatz, z.B. bei der Papierherstellung, als Isoliermaterial, Tierstreu oder Spanplatten. Zudem wird Vitsœs Leinen in klimaneutralen Mühlen gewebt. Das fertige Leinen hat weitere Eigenschaften, die es zum Stoff der Wahl gemacht haben: Es ist thermoregulierend (kühl im Sommer und warm im Winter) und hypoallergen. Zudem ist es mit 30.000 Martindale so haltbar, dass es sich sogar für den öffentlichen Verkehr eignet – sollte Ihr Wohnzimmer hochfrequentiert sein. Und, ebenso wichtig: Der Stoff fühlt sich sehr angenehm an.

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Dean Hearne

Und die Farben? Wie Sie vielleicht wissen, hängt bei Vitsœ ein unsichtbares Schild mit der Aufschrift „Hier keine modischen Farben“ über der Tür. Die 620-Leinenbezüge kommen in einer kleinen Palette sorgfältig ausgesuchter Farben auf den Markt: Grau, Marine, Loden und Flachs (ungefärbt). Um die richtigen zu finden, wurden Farbmuster an das globale Vitsœ-Planungsteam geschickt, die mit ihren Kunden vor Ort Marktforschung betrieben. Es überrascht nicht, dass Grau und Flachs die beliebten Spitzenreiter waren. Aber alle vier Optionen sind das, was man als „rezessive“ Farben bezeichnen könnte. Sie spielen sanft mit dem Auge und harmonieren gut mit anderen Farben.

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Dean Hearne

Ästhetisch waren die 620 Sessel, ob allein oder als Sofa, immer schon eine ruhige Präsenz im Raum. Sie brauchen nicht viel Platz und strahlen auch nicht die „Schau-mich-an“-Arroganz anderer Designer-Sessel aus (Sie wissen sicher, welche ich meine). In Sachen Komfort sind die 620er eine wahre Überraschung: Sie sind innen komplex, außen simpel und bieten eine hervorragende Rückenstütze samt Lounge-Faktor. Was ihr Design betrifft, sind sie zurückhaltend clever und anpassungsfähig. Vitsœ ruht sich eben nie auf seinen (Design-)Lorbeeren aus.

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