Mit wenigen Schritten in eine Oase der Ruhe
Wie die Autorin und Journalistin Kassia St Clair den Weg in den Garten fand.
Worte: Phil Kenny
Fotos: Beth Davies
Der Kinderbuchautor Roald Dahl schrieb viele seiner beliebten Geschichten in seinem Gartenhaus in Buckinghamshire. Der Lyriker Dylan Thomas dichtete in einer winzigen Holzhütte auf einer Klippe über der walisischen Küste von Carmarthenshire. Und der Dramatiker George Bernard-Shaw zog sich 20 Jahre lang zum Schreiben in seinen Schuppen in St. Albans zurück. Virginia Woolfs Romane entstanden in ihrem Gartenhaus in Sussex, während Philip Pullman die gesamte Trilogie „His Dark Materials“ in seinem Schuppen in Oxford geschrieben hat. Die Liste namhafter britischer Schriftsteller, die sich in die Einsamkeit einer bescheidenen Gartenhütte geflüchtet haben, lässt sich fortsetzen.
Und führt direkt zu Kassia St Clair: An einem sonnigen Morgen sitzt sie an ihrem Schreibtisch, im Hintergrund singen Vögel, Sonnenlicht strömt durch die Fenster in das, was sie liebevoll als ihren „Schuppen” bezeichnet – ein von den Spezialisten für Mikroarchitektur von 3rdSpace aus Oxfordshire geschaffenes Garten-Atelier. Weit entfernt von einem traditionellen Geräteschuppen handelt es sich um eine klare, moderne, zweckmäßige Konstruktion, die sich jedoch sehr lebendig und persönlich anfühlt.
Der tägliche Weg hierher ist kurz. Es sind nur ein paar Schritte von ihrer Wohnung in Südlondon, die sie mit Ehemann Olivier und Luna – einem Picknick-stibitzenden Pudel – teilt. Sie führen in eine Welt voller bunter Postkarten und Post-its. Eine große Karte, die Teil der Recherche für Kassias nächstes Buch ist, nimmt eine ganze Wand ein. Neben den Forschungsnotizen und Büchern schmücken verschiedene Topfpflanzen, Fotografien, Tintenfässer und eine umfangreiche Füllfederhaltersammlung die Regale.
Nach ihrem Geschichtsstudium folgten verschiedene Praktika für Zeitschriften und schließlich der erste „richtige“ Job als Assistentin des Redakteurs für Essen und Wein des House and Garden Magazine, bevor sie ins Ressort Books & Arts der Zeitung The Economist wechselte (und dazwischen noch einen Master-Abschluss einschob). Auch eine Kolumne über Farben für das Elle Decoration Magazin kam hinzu.
Nach einigen Jahren in der Branche stellte Kassia jedoch fest, dass ihre Karriere nicht so schnell vorankam wie ihr Schreiben, und beschloss, den Sprung in die Selbstständigkeit als Autorin zu wagen. Ohne vorhandene Angebote suchte sie sich selbst eine Agentin und platzierte erfolgreich ihre erste Buchidee. Der Haken? Ihr Verlag bestand auf einer unglaublich engen Frist von nur fünf Monaten. Also recherchierte und schrieb sie, während sie gleichzeitig einen Vollzeitjob meisterte. Nach intensiven Arbeitswochen von 5 Uhr morgens bis spät in die Nacht lieferte Kassia ihr fertiges Buch „The Secret Lives of Colour“ ab.
In dieser Zeit wurde schnell klar, dass das Jonglieren von zwei sehr anspruchsvollen Jobs keine dauerhafte Lösung war – und sie eine Entscheidung treffen musste. Nach langem Ringen gab sie sich einen Ruck und reichte ihre Kündigung bei der Zeitung ein. Ihr letzter Arbeitstag fiel fast genau mit der Abgabe des finalen Buchmanuskripts zusammen. Am nächsten Morgen erwachte sie: ohne Job, ohne eine Ahnung, ob sich ihr Buch verkaufen würde, und ohne Folgeauftrag. Also sagte sie sich: „Okay, ich schreibe jetzt Bücher – was bleibt mir auch übrig, etwas Anderes habe ich nicht mehr zu tun!”
Als mutiges Unterfangen möchte sie diesen Schritt allerdings nicht verstanden wissen, sondern spricht eher von „einer Entscheidung, die unter etwas zu viel Druck getroffen wurde“. Trotz aller Unsicherheiten hat sich das Wagnis ausgezahlt. „Die Welt der Farben“ wurde ein Bestseller und fester Bestandteil von Museumsshops und Designbuchhandlungen auf der ganzen Welt. Inzwischen ist es in mehrere Sprachen übersetzt. Bald darauf folgte der nächste Coup mit „The Golden Thread“ – eine Geschichte von Textilien und Stoffen, auf Deutsch „Die Welt der Stoffe”.
Mit und neben ihren Büchern hat Kassia sich weiter im Printjournalismus etabliert und freiberuflich für eine Reihe von Publikationen wie Wired and Architectural Digest zu verschiedensten Themen geschrieben: von Kunst & Design, Kulturgeschichte und Wissenschaft bis hin zu Film-, Fernseh- und Buchbesprechungen. Wenn man ihre Artikel liest, merkt man schnell, dass sie Geschichten liebt, die den Leser mit Details überraschen, die einem selbst nie in den Sinn gekommen wären. Ihr Ziel ist es, ihre Leserschaft auf etwas aufmerksam zu machen, das sie zwar regelmäßig benutzen oder sehen, aber den Fokus darauf so zu verändern, dass eine neue Faszination für alltägliche Dinge entflammt. Sie möchte „uns daran zu erinnern, dass vieles von dem, was wir für selbstverständlich halten, eine vielschichtige und überraschende Hintergrundgeschichte hat“.
Oft wird sie für Artikel und Themen zu Farben und Textilien angefragt – ein wohl unvermeidlicher Nebeneffekt ihres Erfolgs. Um sich eine Themenvielfalt zu bewahren, braucht es einen steten Strom neuer Story-Pitches. Kassia erklärt, dass man als freiberufliche Autorin „nur hoffen kann, dass Redakteure auf die Hälfte von 20 Pitches überhaupt nur antworten – und angesichts der derzeitigen Herausforderungen der Medienbranche erwarten wir Journalisten, dass der Großteil dieser Antworten Absagen sind.“ Wenn ein Artikel aber schließlich erscheint, ist es eine umso größere Freude.
Bis Ende 2018 gehörte auch der Autoren-Podcast „Always take notes“ zu ihren Projekten. Wie gelingt es, die verschiedenen journalistischen Aufträge, große Buchprojekte und andere Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen? Alle Projekte laufen parallel – und zwar kontinuierlich –, was im Regelfall unproblematisch ist. Aber wenn die Arbeiten für Magazine mehr werden, kann es leicht passieren, dass die größeren Buchprojekte leiden und monatelang keine Aufmerksamkeit bekommen. „Der Trick besteht darin, mehrere drohende Deadlines im Auge zu behalten“, sagt Kassia. Sie vergleicht es mit dem Kochen – und der Erinnerung an die aufgesetzten Kartoffeln im Topf. „Sie können sie völlig vergessen, aber früher oder später werden sie zu Brei, während Sie mit dem Braten beschäftigt sind!“
Die eigentliche Herausforderung bestehe darin, die Zeit täglich oder sogar stündlich zu organisieren, sagt sie. Als Morgenmensch durch und durch arbeitet sie nach einer strengen Struktur, unterstützt von ihrer geschätzten Melitta-Kaffeemaschine – zweifelsohne ihre letzte Station, bevor sie zum „Schuppen“ aufbricht. An einem typischen Arbeitsmorgen sitzt sie pünktlich um 6.30 Uhr an ihrem Schreibtisch, von wo sie auf Vogelhäuschen in den Feigen- und Birnenbäumen blickt, die vor allem bei der lokalen Population von Halsbandsittichen beliebt sind (die seit einer Flucht in den 1970er Jahren in den Londoner Vororten gedeiht). Sie schreibt in 40-minütigen Sessions, an die sie eine App namens „Forest” erinnert, und macht dazwischen fünf Minuten Pause. Diese konzentrierte Routine hält sie bis zu sechs Stunden lang durch, an deren Ende sie allerdings zugibt: „Dann bin ich fertig, mein Gehirn ist komplett matschig.“ Derzeit nutzt sie diesen toten Punkt, um eine zusätzliche Stunde mit dem Erlernen einer neuen Fremdsprache zu verbringen.
Als „quälend analoge“ Person denkt sie am besten mit Stift und Papier und hat einen ganz besonderen Arbeitsprozess entwickelt. Die Regale hinter ihr sind vollgepackt mit Leitz-Ordnern und Notizbüchern, befüllt mit Recherchen, Niederschriften und Mind-Maps für ihre Bücher und Artikel. Eine Explosion kunterbunter Post-its platzt aus der offenen Seite eines jeden heraus. Im Inneren schmücken farbige Textmarker-Streifen Seite für Seite. Kassia hat ein ganzes Farbcodierungssystem für die thematische Organisation ihrer Arbeit erstellt, das sich nur ihr allein erschließt. „Ich weiß wirklich nicht, wie das irgendjemand an einem Computerbildschirm macht”, rätselt sie.
Hat ihre Selbstständigkeit auch irgendwelche Nachteile? Sehr wenige, sagt sie, auch wenn ihr die Zusammenarbeit mit Kollegen fehlt. Lektoren lassen einen manchmal wochenlang in Ruhe, damit man ungestört am Buch weiterschreiben kann – Phasen fast ohne menschlichen Kontakt. Aber obwohl das Atelier ihr ganz privater Arbeitsbereich ist, kommt Olivier tagsüber immer mal mit einer Tasse Tee vorbei. Je nach Arbeitspensum nimmt sich Kassia Zeit zum Plaudern – oder jagt ihn zum Teufel.
Kassias neuestes Buch markiert thematisch einen wesentlichen Richtungswechsel gegenüber den beiden vorherigen – und ist ihr bisher umfangreichstes und ehrgeizigstes Projekt. Ohne zu viel zu verraten: Es dreht sich um ein edwardianisches Autorennen, um die kulturelle und politische Geschichte der abgelegenen Regionen entlang der Strecke und um die aufkommenden Technologien der Zeit. Außerdem erzählt es die persönliche Geschichte von unerschrockenen Reisenden, die eine außergewöhnliche Fahrt unternahmen, die viele ihrer Zeitgenossen für unmöglich hielten.
Ein Großteil des Recherchematerials liegt allerdings in anderen Sprachen als Englisch vor. Eine zusätzliche Hürde, die zu Kassias jüngstem mutigen Entschluss führte, Russisch zu lernen – und eine Fülle weiterer Post-its hervorbrachte, die den Arbeitsbereich schmücken. Gemeinsam mit ihrem Ehemann möchte sie die Route des Rennens im nächsten Sommer nachreisen: Zwei Monate soll die Fahrt in „Barbara“ daueren, einem Toyota Landcruiser aus den 1990ern, den sie eigens für das Projekt erworben haben. Das Terrain der Route ist, gelinde gesagt, unerbittlich. Daher fiel die Wahl auf ein funktionales, zuverlässiges Vehikel mit leicht austauschbaren Teilen, das „einfach seinen Job erledigt“. Es wird noch angepasst, damit es zusätzlichen Kraftstoff und Wasser transportieren und als Übernachtungsmöglichkeit dienen kann.
Auch wenn sie auf die Sicherheit eines festen Arbeitsplatzes, die geschäftige Kollegialität des Newsrooms – und die damit verbundenen Büroräume – verzichtet hat, versucht Kassia weiterhin, eine gewisse Trennung zwischen Arbeit und Zuhause aufrechtzuerhalten. Die Art ihrer Tätigkeit erfordert tiefe Konzentration, aber am Ende eines Bürotages schließt sie die Tür hinter sich und geht die wenigen Schritte nach Hause mit dem Gefühl, ihre Arbeit sowohl physisch als auch mental für eine Weile hinter sich zu lassen.