Zu Besuch bei Vitsœ
Wir freuen uns immer über Besuch in unseren Geschäften und unserem Produktionsgebäude. Unser liebster Gast ist und bleibt der Gestalter unserer Möbel, Dieter Rams.
Von: Ein Mäuschen
Fotos: Vitsœ
Im Oktober 2019 besuchte Dieter Rams unser Geschäft in London, um mit uns die Eröffnung unseres neuen Standorts in der Marylebone Lane zu feiern. Wir hatten angekündigt, dass Dieter, Pionier des Produktdesigns, anwesend würde. Was wir nicht erwartet hatten, war die Begeisterung, die dies auslösen würde, und der große Andrang, der folgte.
Am 6. Februar 2024 geht es viel ruhiger zu. Dieter, der bald seinen 92. Geburtstag feiert, möchte verständlicherweise nicht zu viel Trubel. Er schlendert mit Mark Adams am Manchester Square vorbei und erinnert sich, wie er hier von Gary Hustwit für den Dokumentarfilm „Rams“ gefilmt wurde. Dann biegen die beiden in die Marylebone Lane ein, um zum Vitsœ-Geschäft zu gelangen. Wie immer bleibt Dieter eine Weile stehen, um das Schaufenster und den Innenraum des Geschäfts zu betrachten. Für viele von uns ist es ein vertrauter Anblick, wenn Mark und Dieter vor dem Geschäft stehen und darüber diskutieren, was sie sehen. Sie sind Seelenverwandte, die seit fast 40 Jahren zusammenarbeiten und mit zielstrebiger Entschlossenheit Produkte schaffen, die nicht nach Überflüssigkeit streben, sondern diskret, anpassungsfähig und treu ein Leben lang halten.
Im Geschäft nimmt er alles in sich auf, berührt die Produkte und prüft ihre Qualität mit seinen Händen. Wie üblich sitzen er und Mark zusammen und unterhalten sich über Vitsœ, das Ethos des Unternehmens, London, Deutschland, den Klimawandel, Regierungen, die turbulenten Geschehnisse in der Welt und so weiter… Sie sitzen in einem von Dieter entworfenen Dreisitzer 620 mit Leinenbezug, und es entwickelt sich eine weitere Diskussion über dieses Material, sowie über die alternative Lederpolsterung. Dieter ist mit den Materialien zufrieden, sie sind genau richtig für seinen Sessel.
Am nächsten Morgen kommt Dieter in unserem Produktionsgebäude in Royal Leamington Spa an. Er wird von Klaus Klemp begleitet, dem Designhistoriker und Vorsitzenden der Rams Foundation, die 1992 von Dieter und seiner verstorbenen Frau Ingeborg gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, „Industriedesign zu fördern, das eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber den Menschen und der Umwelt einnimmt“. Die Sonne scheint und Tageslicht flutet durch das Sägezahndach ins Vitsœ-Gebäude. Kein einziges künstliches Licht wird benötigt. Das geschäftige Treiben lässt Dieter zufrieden lächeln. Die Energie des Schaffens stärkt ihn. Die Möbel, die er vor über 60 Jahren entworfen hat, werden hier für Kunden und Kundinnen hergestellt, die bereit sind, in Langlebigkeit zu investieren. Die radikal einfachen Elektrogeräte, die er zwischen 1955 und 1995 für Braun entworfen hat, haben ihn berühmt gemacht, aber sie werden nicht mehr produziert, sondern befinden sich heute in Sammlungen und Museen. Für Rams sind sie nicht lebendig, und das schmerzt ihn. Er hasst Obsoleszenz.
Unser Produktionsgebäude besteht aus 18 sich wiederholenden Abschnitten, die jeweils 25 Meter breit und 7,5 Meter tief sind und von uns „Buchten“ genannt werden. Dieter amüsiert sich immer über unsere Verwendung dieses Wortes, da er es mit Meeresbuchten assoziiert. Bei seiner Ankunft trifft er in Bucht 1 auf Ian Lidgbird, einen ruhigen, akribischen Typ, der für die Produktion des Sesselprogramms 620 verantwortlich ist. Ian und Dieter sind sofort ins Gespräch versunken und nehmen gemeinsam die Feinheiten des Sessels unter die Lupe. Die meisten der präzisionsgefertigten Komponenten sind für Benutzer völlig unsichtbar, aber sie sind unabdingbar für die exquisite Funktionalität des Sessels. Heute werden Verbesserungen an der Drehscheibe analysiert.
Dieter spaziert durch den Produktmontagebereich in den Buchten 2, 3 und 4, wobei seine wachen Augen jede Aktivität erfassen. Lewis Nelson, einer unserer neueren Möbelschreiner, hat Dieter noch nicht kennengelernt. Normalerweise fröhlich und selbstbewusst, zittert seine Hand heute, als Dieter ihm bei der Montage eines Doppelregals zusieht. Wir sind alle ein wenig erstaunt. Dieter lässt sich jedoch nicht ablenken; es ist die Präzision, die seine Aufmerksamkeit fesselt. In Bucht 5 demonstriert Dudley Gardiner die neue Laser-Glättungsmaschine, die jedem E-Profil ein feines Vitsœ-Logo aufdruckt. Er hat auch die Musik ausgewählt, die heute im gesamten Produktionsbereich gespielt wird. Nachdem er sich am Abend zuvor nochmals den Film „Rams“ angeschaut hat, weiß Dudley, dass Dieter im Film in seiner Wohnung zu Musik des Oscar Peterson Trios tanzte. Dieter quittiert die Musikauswahl mit einem Lächeln und einem Nicken.
Als Dieter und Mark zur Logistik- und Lieferketten-Abteilung in den Buchten 5 und 6 wandern, unterbrechen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre tägliche Arbeit, um herüberzukommen und ihn zu begrüßen, Hände zu schütteln und zu plaudern. Sie sind stolz auf das, was sie tun, und freuen sich, dies mit ihm zu teilen. Es gefällt ihm, die hoch gestapelten Kartons im Versandbereich zu sehen, die in den Buchten 8 und 9 zur Abholung bereit stehen, und die Namen der Bestimmungsländer zu lesen: heute sind es Singapur, Südkorea, mehrere Staaten Nordamerikas, Italien, Frankreich und Deutschland. Virgil Tracy verpackt die Faber-Castell-Bleistifte und Bosch-Bohrer, die zusammen mit Schrauben und Dübeln allen Regalbestellungen beiliegen. Dieter ist von diesen bekannten deutschen Namen angetan.
Im Lagerbereich der Buchten 11, 12 und 13 trifft er auf das Finanzteam und das Technikteam in Bucht 14, die alle ihre 606 Arbeitsplätze verlassen, um ihn zu begrüßen. Die Ankunft in den Buchten 15 und 16 fühlt sich sehr vertraut an, da hier die Strong-Kollektion ausgestellt wird. Es ist eine Sammlung von Braun-Produkten, die der Vitsœ-Kunde Tom Strong im Laufe der Jahre zusammengetragen hat. Er hat Vitsœ großzügigerweise mehr als 250 Ausstellungsstücke gespendet, um die Ausbildung der nächsten Generation von Gestaltern und Gestalterinnen zu unterstützen. Hier trifft Dieter Rams auf den emeritierten Direktor des Londoner Design Museums, Deyan Sudjic, der 2009 zusammen mit Klaus Klemp dort die Ausstellung „Less and More - The Design Ethos of Dieter Rams“ präsentierte. Alles ist ihnen vertraut, obwohl Deyan und Klaus diese spezifische Kollektion zum ersten Mal sehen. Zusammen mit Mark und Vitsœs Hausmeister Daniel Calderbank sitzen sie beisammen, um die Sammlung mit Kennerblick unter die Lupe zu nehmen. Heute erklärt Dieter die Funktionalität der Farben auf den Tasten des Braun Taschenrechners ET 66 – auch wenn sie natürlich einfach nur gut aussehen.
Deyan drückt den Auslöser für das Vitsœ-Gruppenfoto, und dann ist es Zeit fürs Mittagessen. Der Vitsœ-Koch Will Leigh hat in der Küche in Bucht 18 köstliche Speisen für uns alle zubereitet. Heute gibt es Steinbutt, denn es ist kein Geheimnis, dass Dieter Fisch liebt. Wie jeden Tag bei Vitsœ setzen sich alle zum Essen zusammen, so dass Kollegen und Kolleginnen aus allen Bereichen des Unternehmens miteinander ins Gespräch kommen. Sowohl Klaus als auch Deyan kommentieren die gemeinschaftliche Atmosphäre, die sie umgibt. Für Dieter, den vertrauten Gast, fühlt es sich immer so an. Nach dem Mittagessen hat Dieter Zeit für das, was ihm am meisten Spaß macht – der Produktentwicklung. Der Prozess des Fühlens, Drehens und Analysierens ist für ihn instinktiv. Er stellt Fragen, fordert heraus und kommentiert. Dabei gibt er sein 70-jähriges Wissen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Vitsœ weiter. Sie sorgen ihrerseits dafür, dass seine Entwürfe mit den aktuellen Entwicklungen in der Fertigung Schritt halten – und dabei ihrem ursprünglichen gestalterischen Ethos treu bleiben. Neue Materialien sind heute selbstverständlich.
Er verabschiedet sich – ein wenig müde, aber glücklich – und sagt, dass er sich darauf freut, uns alle bald wiederzusehen. Er hat es genossen, zu beobachten, wie viel Liebe und Sorgfalt wir seinen Entwürfen und unseren Produkten zuteilwerden lassen, zum Wohl unserer Kollegen und Kolleginnen, Kunden und Kundinnen. Auch wir hoffen, dass er bald wiederkommen wird.