Das Elternhaus von William Morris
Ein Archiv, das dem Gestalter, Dichter,
Philosophen und Sozialisten gerecht wird.
Philosophen und Sozialisten gerecht wird.
Von: Jane Audas
Fotos: William Morris Gallery and Vitsœ
Die meisten von uns kennen William Morris (1834-1896) als einen Tapeten- und Textilgestalter mit einem besonderen Talent für Farben und Muster. Seinen viktorianischen Zeitgenossen war er jedoch vor allem als Dichter bekannt – vielleicht, weil es die respektabelste seiner vielen Betätigungen war. Sein Ruhm als Gestalter kam erst später. Er leitete ein erfolgreiches Unternehmen für Innendekoration: Morris & Co, das ihn weit überlebte und dessen Designs noch heute in Lizenz verkauft werden. Die Assoziation mit dem „Handel“ galt allerdings als problematisch – einem Gentleman nicht würdig. Seine sozialistische Politik, der er sein Leben lang treu blieb, wurde ebenso unter den (sehr schönen) Teppich gekehrt. Das Leben und Werk von William Morris war eng mit der präraffaelitischen Bruderschaft verbunden, einer Gruppe von Dichtern und Malern, die wie Morris von der mittelalterlichen Artussage fasziniert waren und Frauen stets mit wallendem Haar und Rosenknospenlippen darstellten. (Morris heiratete einer dieser Frauen, die präraffaelitische Muse Jane Burden).
Das Museum, das Morris’ Namen trägt, befindet sich heute im Nordosten Londons, versteckt in einer Ecke des Lloyd Parks in Walthamstow. Die William Morris Gallery (WMG) wurde 1762 erbaut und ist ein stattliches, denkmalgeschütztes georgianisches Haus, das ursprünglich The Water House hieß, weil im Park hinter dem Haus ein Wassergraben lag (und immer noch liegt), der ein früheres Gebäude an derselben Stelle schützen sollte. Von 1848 bis 1856 war das Water House der Wohnsitz der Familie Morris. William wurde 1834 als drittes von neun Kindern in Walthamstow geboren. Es heißt, dass er sehr früh zu lesen begann. Als seine Familie in das Water House zog, war er 14 Jahre alt. Er verbrachte also seine Teenagerjahre dort, vermutlich ganz versunken in eine mittelalterliche Fantasiewelt. Man kann sich auch vorstellen, wie er ungeduldig darauf wartete, dass sein berühmter Bart zu wachsen begann.
1898 wurde das Water House von den damaligen Besitzern, der Familie Lloyd, an die Gemeinde Walthamstow übergeben. Damit begann die allmähliche Verwandlung des Hauses in ein Museum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konkretisierten der Künstler Sir Frank Brangwyn, der Architekt und Designer Arthur Haygate Mackmurdo und der Kunstlehrer und Antiquar Walter Spradbery ihre Pläne für ein Museum zum Gedenken an William Morris und seinen Kreis. Es wurde jedoch erst 1950 durch den damaligen Premierminister Clement Attlee offiziell eröffnet. Im Jahr 2012 wurde eine umfassende Renovierung durchgeführt und ein moderner Anbau errichtet. Dem Museum wurde so neues Leben eingehaucht. Statt einer verstaubten alten Institution im Stil eines Gemeindeverwaltungsbüros ist es nun ein preisgekröntes, besucherfreundliches Gebäude.
Im obersten Stockwerk befinden sich die Büros der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, ein Bildungsraum (den man oft schon hören kann, bevor man ihn sieht) und ein Raum mit niedriger Decke und Blick auf den Vorhof. Früher war dies ein Lagerraum, aber im Rahmen der Renovierung wurde er umgestaltet und ist jetzt ein „Lesesaal“. Oder besser gesagt, eine Bibliothek. Er steht Forschern und Forscherrinnen nach Vereinbarung offen und dient den Kuratoren und Kuratorinnen der Galerie als Bibliothek. Die Bücher dort reichen vom Boden bis zur Decke. Sie nehmen fast überhand (falls man das über Bücher sagen kann). Es muss ein ständiger Kampf sein, die bibliografische Ordnung aufrechtzuerhalten. Als Orientierungshilfen gibt es eine alte Bibliotheksleiter und Schubladen für Zettelkataloge. Alles in allem sieht der Lesesaal so aus, als ob er regelmäßig genutzt wird – wie es sich für eine gute Bibliothek gehört.
Die Bücher hier stammen keineswegs alle aus William Morris’ eigener Sammlung, sondern sind eine Kombination von Nachlässen, Schenkungen und Ankäufen. Der Mitbegründer des Museums, Frank Brangwyn, hat einen wesentlichen Beitrag geleistet. Und viele Bücher enthalten Stempel aus der Walthamstow Reference Library, aus der sie 1951 überführt wurden. Roisin Inglesby, Kuratorin am WMG, erklärt: „Die Bibliothek (wie auch die Sammlung im Allgemeinen) ist dank Brangwyn viel vielfältiger, als man vielleicht denken würde. Es geht nicht nur um William Morris. Brangwyn war in der Kunstwelt sehr umtriebig und hatte eine umfangreiche Sammlung. Er hat der WMG viele Dinge geschenkt, die nicht explizit mit William Morris zu tun haben.“
Im ganzen Raum sind schöne alte Buchrücken zu sehen. Einige tragen „Tipp-Ex“-Nummern, andere haben bräunliche, sich wellende Aufkleber, die auf ihre Herkunft aus einer Bibliothek hinweisen. Es gibt edle Ledereinbände und verblichene Schutzumschläge. Einige in Velin gebundene Bände zeigen bei genauer Betrachtung Poren in der Kalbshaut, aus der sie gefertigt sind. Viele der Bücher sind in Leinen gebunden, mit einem gestempelten Titel und ein paar einfachen dekorativen Schnörkeln. Roisin zieht ein Buch von William Morris mit dem Titel „Love is Enough“ heraus. Das Moralstück in Gedichtform hat einen dunkelgrünen Leineneinband und einen goldgeprägten Umschlag. Um den Titel ranken sich geschwungene Morris-Blätter. Auf einer Inschrift ist zu lesen: „Emma Oldham, von ihrem zärtlichsten Bruder William Morris, 7. Dezember 1872“. Und so spiegelt sich in einem einfachen Buch das Familienleben von Morris wider.
In einem Schrank in der Bibliothek befindet sich eine Reihe abgegriffener beigefarbener Bücher, die sich als technische Handbücher aus der Reihe „The Artistic Crafts Series of Technical Handbooks“ entpuppen. Die von W.R. Lethaby herausgegebenen und in den frühen 1900er Jahren von John Hogg veröffentlichten Bücher gehörten damals zur Designausbildung. Zu den Bänden gehören: „Stained Glass Work, a text-book for students and workers in glass“ von Christopher Whall (der, wie Roisin sagt, damals der größte Experte für Glasmalerei war). „Writing & Illuminating & Lettering“ von Edward Johnston, dem Schöpfer der unvergleichlichen serifenlosen Schrift Johnston, die in der Londoner U-Bahn zum Einsatz kam. Und „Hand-Loom Weaving. Plain & Ornamental“ von dem Tapeten- und Textildesigner Luther Hooper. Diese Bücher trugen zur Renaissance des Kunsthandwerks in der Zwischenkriegszeit bei, als die Theorien der Arts and Crafts Bewegung an den Kunsthochschulen Fuß fassten. Weiterhin wurden sie fester Bestandteil des Kursangebots an Abendschulen, die auch für die Arbeiterklasse zugänglich waren.
In einem anderen Regal findet sich ein von Frank Brangwyn illustriertes Exemplar des Gedichts „Rubaiyat“ von Omar Khayyam (um 1909). Es ist Eleanor Pugh gewidmet, der Nichte des WMG-Museumsgründers Arthur Haygate Mackmurdo. Brangwyn war ein enger Mitarbeiter und ehemaliger Lehrling von Morris. Letztendlich gab er das Kunsthandwerk auf und wurde ein bekannter bildender Künstler, dessen Werk Grafiken, Radierungen, Keramiken und großformatige Wandbilder umfasste. „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er wahrscheinlich der berühmteste Ölmaler in ganz England“, erklärt Roisin. „Fünfzig Jahre später war er jedoch völlig aus der Mode gekommen und galt als der letzte Viktorianer. Als Sammler war er sehr eklektisch; seine persönliche Kunstsammlung umfasst alles von Ölgemälden aus dem 15. bis hin zu Drucken aus dem 20. Jahrhundert. In den 1940er Jahren schenkte er sie dem Museum, dessen Gründungssammlung sie wurde.
Roisin greift nach dem Buch „The Story of the Glittering Plain“ und verrät, dass Morris heute als Vater der Fantasy-Literatur gilt. Wer hätte das gedacht? Glittering Plain ist ein „Fantasieroman“, den Morris 1891 über eine romantisierte vergangene Welt schrieb – eine Welt in der Zukunft, wenn man so will. Es war auch das erste Buch, das von seinem damals neu gegründeten Verlag Kelmscott Press in Hammersmith veröffentlicht wurde. Als Autor wird Morris manchmal als „Bindeglied zwischen mittelalterlicher Literatur und Game of Thrones“ bezeichnet, sagt Roisin mit einem Lächeln. Aber die Bücher sind keine leichte Lektüre. „Ich gestehe, dass ich sie nur als Hörbücher durchstehen kann. Bücher waren die letzte große Begeisterung von Morris. Seine Begeisterungen hielten immer etwa fünf Jahre lang an. Er begeisterte sich für etwas und ging dann zu etwas anderem über.“ In anderen Regalen finden sich noch mehr von Morris’ umfangreichen Werken, darunter seine zahlreichen veröffentlichten Vorträge. Zu der Zeit, als er 1879 nach Kelmscott House in Hammersmith zog (benannt nach seinem gleichnamigen Landhaus), wurde Morris als Sozialist aktiv und begann, im ganzen Land Vorträge über sozialistische Themen zu halten. Später gründete er die Hammersmith Socialist Society und hielt wöchentliche Vorlesungen ab.
Morris blieb seinen Grundsätzen treu und verbreitete seine Schriften auch in billigeren, portableren (wenn auch nicht unbedingt leichter verdaulichen) Formaten. Roisin zieht ein kleines, unscheinbares Buch aus dem Regal, dessen Titel fast länger ist als das Buch selbst: „Art and socialism – a lecture delivered (January 23rd, 1884) before the Secular Society of Leicester by William Morris, author of ‘The earthly paradise,‘ etc.“ Im hinteren Teil des Buches befinden sich Anzeigen für weitere leichte Lektüre: „The Secular Review – a weekly journal of Freethought Literature and Philosophy.“ „Christian Socialist – a journal for those who work and think.“ und „Progress – a monthly magazine Darwinian in Science, Human in Religion, Radical in Politics, Honest in Criticism.“ Da kann niemand sagen, dass es bei Morris nur um Blumen und Et-Zeichen ging.
Eine kürzliche Neuerwerbung der Bibliothek der WMG ist ein Exemplar von Morris’ utopischem Roman „News From Nowhere“ auf Japanisch. Kurz vor der Pandemie wurde es von der Witwe des Mannes, der es übersetzt hatte, an die Galerie übergeben. Er hatte die Übersetzung zu seinem Lebenswerk gemacht. Morris ist in Japan seit den 1890er Jahren bekannt, aber eher für seine Muster als für seine Philosophie. Die Muster sind dort immer noch hochbeliebt. Als Roisin vor kurzem in Japan war, um für ihre bevorstehende Ausstellung über die Verbindungen zwischen Mingei (japanischem „Volkshandwerk“) und Morris zu forschen, entdeckte sie überall die „typisch englischen“ William-Morris-Muster. Sogar einige Produkte aus dem WMG-Laden waren im Angebot.
Heute ist die WMG ein quicklebendiges Museum und ein Archiv, das Morris den Gestalter, Dichter, Philosophen und Sozialisten würdigt. Sie besitzt die größte öffentliche Sammlung von Objekten über Morris. Ein wechselndes Ausstellungsprogramm führt durch die Bereiche Textilien, Mode, bildende Kunst und Kunsthandwerk. Das Museum heißt alle Besucher willkommen, egal ob sie wegen des Kuchens oder der Kultur gekommen sind. William Morris’ egalitäres Herz wäre sicher voller Stolz.
Art Without Heroes: Mingei
William Morris Gallery,
Lloyd Park House,
London E17 4PP
März–September 2024