Ein Blick zurück und voraus
Klaus Klemp und Sophie Lovell haben beide Dieter Rams Werk dokumentiert. Sie reflektieren über seine Beweggründe, seinen weitreichenden Einfluss und sein Vermächtnis.

Sophie Lovell, Foto: Lena Giovanazzi. Klaus Klemp, Foto: Andreas Baier.

Worte und Fotos: Vitsœ

Der deutsche Designhistoriker und Kurator Klaus Klemp und die britische Autorin und Herausgeberin Sophie Lovell sind führende Dieter Rams Experten, die viel über ihn und seine Arbeiten für Vitsœ und den Elektrokonzern Braun publiziert haben. Die Eröffnung von Klemps neuester Ausstellung „Dieter Rams: Ein Blick zurück und voraus“ in Frankfurt schien ein geeigneter Anlass, um mit ihnen über ihre berufliche Verbindung zu Rams und ihre Rolle in der Bewahrung und Weitergabe seines Werkes zu sprechen, sowie über Rams Erbe, seine Botschaft und den Kontext seines Wirkens.

Vor fast 15 Jahren kuratierte Professor Klemp gemeinsam mit Keiko Ueki die große Ausstellung „Less and More: The Design Ethos of Dieter Rams” im Suntory Museum in Osaka. Sie war äußerst erfolgreich und wurde daraufhin in mehreren wichtigen Museen auf der ganzen Welt gezeigt. Jetzt, 13 Jahre später, hat er eine neue Ausstellung über Dieter Rams produziert.

Das Vitsœ Voice Magazin fragt Klemp: Was ist der Unterschied zwischen den beiden Ausstellungen?

Klaus Klemp: Der Unterschied besteht darin, dass „Less and More“ eine sehr große Ausstellung mit vielen Exponaten war, die sich vor allem auf Dieters gestalterische Position, sein „Designethos“ bezogen, sowie auf den Kontext, in dem sein Ethos entstehen konnte und die Wirkung, die es hatte. Die Ausstellung spannte einen Bogen von der Arbeit von Peter Behrens für den Elektrogerätehersteller AEG vor dem Ersten Weltkrieg, über die 1920er Jahre und die Ulmer Schule, bis hin zu Nachfolgern wie Jony Ive, Naoto Fukasawa und Jasper Morrison, die sich alle auf Dieter Rams bezogen. Auch Teamarbeit spielte eine große Rolle in der Ausstellung, die viele Entwürfe anderer Mitglieder des Braun-Designteams zeigte. Sie sollte erst nur in Osaka und Tokio gezeigt werden, wurde dann aber auch nach London, Frankfurt, Seoul und San Francisco eingeladen. Mit so einer großen Resonanz hatten wir damals gar nicht gerechnet. Die Ausstellung hatte insgesamt über 400.000 Besucher.

Die aktuelle Ausstellung ist viel bescheidener. Sie ergab sich aus unserer Arbeit an Dieters Werkverzeichnis, das wir 2019 begannen, und ist deshalb streng chronologisch aufgebaut. Dadurch wird deutlich, dass Dieter während seiner gesamten Schaffenszeit immer parallel an Geräten für Braun und Möbeln für Vitsœ gearbeitet hat. Die Verbindungen, die sich daraus ergaben, haben ihn selbst überrascht. So entstand die Idee für diese sehr kompakte Ausstellung, die auf seiner Arbeit für diese beiden Unternehmen und einigen anderen basiert. Es ist eine Art Fotoausstellung, mit nur wenigen Exponaten und viel Text. Sie ist, dank des großartigen Ausstellungssystems des Designers Mario Lorenz, leicht zu transportieren und sehr flexibel, so dass sie in verschiedenen Größen gezeigt werden kann. Vor allem aber soll sie Dieters Designprinzipien entsprechen und so langlebig und damit so umweltfreundlich wie möglich sein.

VV: Wie war es für Sie beide, über jemanden zu schreiben, der als der größte Industriededesigner der Welt gilt? Spüren Sie da eine gewisse Verantwortung?

Sophie Lovell: Ich weiß, dass wir beide Probleme mit dieser Mythologisierung von Dieter als einsamem Genie und Design-Star haben, zu der die Leute neigen. Die Wahrheit ist komplizierter, denn Design ist auch ein kollaborativer Prozess. Dieter würde das als Erster bestätigen.

KK: In einem Großteil der Literatur wird er entweder als der „Super-
designer“ aller Braun-Geräte oder einfach als Mitglied des Designteams dargestellt. Beides ist falsch. Er war ganz eindeutig an allen Designs bis 1995 beteiligt, aber die Gestaltungsideen anderer Teammitglieder hatten oft Vorrang. Sein Verdienst besteht darin, all diese verschiedenen Ideen zu einer einzigen Firmenidentität zusammenzuführen. Unter seiner Leitung war das Designteam keine klösterliche Konsensgemeinschaft, sondern eine Art Dampfkochtopf mit einem Überdruckventil, das gelegentlich aktiviert werden musste.

VV: Rams ist in diesem Jahr 89 Jahre alt geworden und gibt keine Interviews mehr, aber es gibt zwei Dinge, die ihm immer noch sehr am Herzen liegen: gutes Design und der Beitrag, den es zum Umweltschutz leistet. Wann, glauben Sie, hat dieses Bewusstsein bei ihm wirklich begonnen?

SL: Ja! Er ist in dieser Hinsicht absolut unermüdlich und kümmert sich sehr um die Umwelt, aber auch um das städtebauliche Umfeld. Ich glaube, er hat das in gewisser Weise schon immer getan, aber sein Bewusstsein und seine Sorge für die Umwelt wurden erst so richtig geweckt, als er in den 1960er und 70er Jahren an den Design-Gipfeln in Aspen in den USA teilnahm, wo viele kreative Köpfe und Redner, wie zum Beispiel Buckminster Fuller zusammenkamen und wo es auch Studentenproteste gab.

KK: Sicherlich hatte Aspen mit seinen vielen Begegnungen und Gesprächen einen wichtigen Einfluss auf Dieters Arbeit. Er selbst hat dort 1993 einen Vortrag über „The Future of Design“ gehalten. Aber er wurde auch sonst schon seit den 1970er Jahren zu vielen Vorträgen eingeladen, in denen er seine Haltung zu Design, Brauchbarkeit, funktionalen und ästhetischen Qualitäten, zum Designprozess, zur Bildung, zur Zukunft und zur Ökologie zum Ausdruck brachte und ständig weiterentwickelte. Seine Vortragstätigkeit war fast so umfangreich wie seine Designtätigkeit. Dieter war immer ein sehr nachdenklicher Mensch und hat seine Gedanken auch immer mit anderen geteilt.

SL: Er hört auch nie auf, die Dinge kritisch zu betrachten und darüber nachzudenken, wie Gegenstände, Umgebungen und Systeme verbessert werden können, von Mülltonnen auf der Straße bis hin zur Organisation eines Raumes.

KK: Stimmt! Dieter ist nie zufrieden damit, wie die Dinge sind. Er denkt immer weiter. Das macht ihn zu einem guten Designer. Natürlich könnte er mit den Produkten, die er in die Welt gebracht hat, zufrieden sein. Es gibt kaum einen Designer, der so viele erfolgreiche und nützliche Entwürfe realisiert hat wie er. Aber auch heute, mit 89 Jahren, sorgt er sich um die Zukunft des Designs, um eine gute Designausbildung und um ein dringend notwendiges neues Verhältnis zur Umwelt.

VV: In diesem Jahr feiert Braun sein 100-jähriges Bestehen. Wie sehen Sie beide das Vermächtnis dieses Unternehmens?

SL: Statt Produkte aus der Vergangenheit zu feiern, sollte man sich daran erinnern, dass Erwin und Artur Braun in den 1950er Jahren ein firmeneigenes Gesundheitszentrum für ihre Mitarbeiter einrichteten, dass sie einen Arzt und einen Zahnarzt vor Ort hatten, eine Kantine mit gutem Essen, eine Kinderkrippe und Aktienanteile für Arbeiter anboten. Auch Vitsœ verfolgt heute einen ganzheitlichen Ansatz, der sich in allen Produkten, Mitarbeitern, Materialien, im Vertrieb und sogar in den Räumen, in denen sie arbeiten, widerspiegelt. Gutes Design kann nicht losgelöst von den Systemen existieren, zu denen es gehört.

KK: Dem stimme ich voll und ganz zu. Es geht nicht nur darum, wie Dinge aussehen, sondern auch um die Bedingungen, unter denen unsere Produkte produziert und benutzt werden. Erwin Braun hatte seit den 1950er Jahren einen ganzheitlichen Ansatz für das Unternehmen Braun. Es ging ihm nicht nur um Design als Design, sondern um ein zukunftsfähiges neues Unternehmen, bei dem Respekt und Fürsorge für Mitarbeiter und Kunden im Mittelpunkt standen. Es beruhte auf der Idee der sozialen Marktwirtschaft, in der alle Teile der Gesellschaft mit Fairness behandelt werden sollen. Der Ansatz war sehr erfolgreich und stand in krassem Gegensatz zum heute weit verbreiteten Turbo-Kapitalismus, in dem es vielen Unternehmen nur noch um den höchstmöglichen Gewinn geht. Das hat meiner Meinung nach aber keine Zukunft mehr, denn die Kunden, oder vielmehr Verbraucher, fallen immer weniger auf Marketingtricks herein, sondern beurteilen ein Unternehmen nach seinen ökologischen Grundsätzen und seiner Nachhaltigkeit. Das ist im Moment ganz wichtig.

VV: Wie hat sich Ihrer Meinung nach dieser ganzheitliche Ansatz – zu dem natürlich auch das Design gehört – entwickelt?

SL: Vor kurzem hat der (ebenfalls deutsche) Designer Stefan Diez seine eigenen zehn Thesen für zirkuläres Design vorgestellt. Es sind Leitlinien für eine vernetzte Welt, die von einem Designer stammen, der fast zwei Generationen jünger ist als Dieter, die sich aber sehr auf seine zehn Thesen beziehen. Wir fangen gerade erst an, eine andere Art von modularer Zukunft zu sehen als die, die sich der junge Rams und seine Kollegen vorstellten, aber sie weist starke Parallelen auf. Es gibt eine klare Evolution des Denkens.

KK: Die Kreislaufwirtschaft ist heute eine hochaktuelle Idee, die zwar sicher nicht hundertprozentig realisierbar ist, aber zu einer deutlichen Reduzierung des Ressourcenverbrauchs beitragen kann. Das ist ein wichtiges Feld für Produktdesigner: nicht nur über den Gebrauch und die Ästhetik von Dingen nachzudenken, sondern auch darüber, wie man sie möglichst umweltfreundlich gestalten kann. Übrigens war die HfG Ulm schon in den 1960er Jahren und die HfG Offenbach mit Jochen Gros schon in den 1970er und 1980er Jahren auf diesem Gebiet aktiv. Wenn das jetzt auch in den Unternehmen angekommen ist, dann brauchen wir Designer, die es wirklich umsetzen können. Stefan Diez ist da sicherlich auf dem richtigen Weg. Seine Thesen zur Kreislaufwirtschaft beziehen sich eindeutig auf die zehn Thesen von Rams und erfüllen dessen Wunsch, sie in die Zukunft weiterzuentwickeln.

VV: In diesem Sinn, Professor Klemp, ist Ihre Ausstellung „Dieter Rams: Ein Blick zurück und voraus” Teil dieses Denkens – sie bietet kontextuellen Hintergrund und zeigt, dass Dieters gedankliche Entwicklung und seine Praxis Teil eines Kontinuums mit der Zukunft sind.

KK: Sie soll vor allem ein Beispiel dafür sein, dass Dinge, die vor einem halben Jahrhundert entworfen wurden, auch heute noch aktuell sind. Die Ausstellung soll eine Haltung zum Design vermitteln – langlebig, brauchbar, verständlich, umweltfreundlich und nicht zuletzt hochattraktiv. Sinnvolles Design ist nur dann überzeugend, wenn es auch attraktiv ist. Es ist eine Ausstellung mit vielen Fotos und Texten und nur wenigen Exponaten. Wir wollen Rams Design nicht fetischisieren, sondern seine Absicht in den Vordergrund stellen und erklären.


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Fotos von Wolfgang Günzel, aufgenommen an dem Tag, an dem Dieter Rams die neue Ausstellung besuchte. Mit freundlicher Genehmigung des MAK Frankfurt.

„Dieter Rams: Ein Blick zurück und voraus“ ist bis zum 16. Januar 2022 im Museum Angewandte Kunst Frankfurt zu sehen.


Zum Weiterlesen:

Klaus Klemp – Professor em. für Designtheorie und Designgeschichte.

• „Less and More: The Design Ethos of Dieter Rams“. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, herausgegeben mit Keiko Ueki (2008).

• „Dieter Rams: The Complete Works“ (Phaidon, 2020).

Sophie Lovell – Autorin, Redakteurin und Beraterin in den Bereichen Design, Kulinarik und Architektur.

• „Dieter Rams: As Little Design as Possible” (Phaidon, 2011)