Ein Feuerwerk der Farben
Die italienische Kalligraphin Betty Soldi erzählt von ihrer Arbeit und ihrem Atelier in einem renovierten toskanischen Gewächshaus.
Worte: Vitsœ
Fotos: Maria Riazanova
Betty Soldi lebt in einer Welt voller Farben – kaum verwunderlich, denn sie stammt aus einer italienischen Familie, die seit 1869 Feuerwerkskörper herstellt. Während sich ihre Vorfahren mit Schnur und Schießpulver kreativ auslebten, zieht Betty Papier und Tinte vor. Trotzdem glaubt sie, dass ihr pyrotechnisches Familienerbe sie zur Kalligraphie geführt hat. Nach einem Designstudium an der britischen Ravensbourne University kehrte sie vor einem Jahrzehnt in ihre Heimatstadt Florenz zurück, nachdem sie einige Jahre für Kunden in Paris, London und New York gearbeitet hatte.
Betty war fest entschlossen, in der toskanischen Hauptstadt ein Studio zu finden, das groß genug für ihre umfangreiche Sammlung an Büchern und Kunstobjekten war. Mit etwas Glück fand sie ein baufälliges Gewächshaus mit Garten, nur einen Steinwurf vom berühmten Palazzo Pitti und dem Ponte Vecchio entfernt. „Ich bin im Herzen eine Stadtpflanze. Ich liebe die Energie, die man spürt, wenn man in einer weitläufigen Metropole lebt, diese besondere Mischung aus Alt und Neu“, erklärt Betty. „Aber ein anderer Teil von mir liebt die Natur. Ich hatte also großes Glück, beides an einem Ort zu finden.“
„Das Haus war komplett vernagelt, als ich darüber stolperte. Zu der Zeit war kaum zu erkennen, wie spektakulär es war. Durch die vielen Fenster wird es auch an den wolkigsten Tagen immer mit natürlichem Licht durchflutet, was für mich absolut ideal ist. Es wurde 1801 für Zitronenbäume erbaut, als Teil des allerersten englischen Gartens in Florenz. Das klingt wahrscheinlich nicht sehr bedeutsam, aber damals herrschte der strenge, geometrische Italianate-Stil, und Landschaftsgestaltung war vor allem der Versuch, die Natur zu kontrollieren. Dies hier ist Ergebnis einer veränderten Einstellung, einer romantischen Rebellion: Wenn ein Blatt oder eine verwelkte Rose auf den Boden fallen wollte, konnten sie das tun, und niemand hatte das Bedürfnis, sie aufzuheben.“
Betty, die gelegentlich Meisterkurse in Kalligraphie gibt, bezeichnet die Unberechenbarkeit der Natur als starken Einfluss auf die Art und Weise, wie sie mit Schülern an ihrer Handschrift arbeitet. Nach einer kurzen Denkpause erläutert sie, warum ihr Spontaneität als Teil des kreativen Prozesses wichtig ist: „Hier in Florenz sprechen alle immer darüber, wie großartig die Renaissance war. Ein Blick auf die Philosophie von Michelangelo, Botticelli und Leonardo zeigt, dass sie alle gelernt haben, erst sich selbst zu schulen, bevor sie irgendetwas der Welt gegenüber zum Ausdruck brachten. Sie kannten die Geschichte und fanden in ihr eine starke Basis für ihre Arbeit. Ich als moderne Kalligraphin hingegen ziehe es vor, die tradierten Regeln der Typografie zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber dann meinen eigenen Weg zu gehen. Das ist Florentiner humanistisches Denken: Die Natur inspiriert uns – und wir haben die Pflicht, etwas daraus zu machen.“
„Wenn ich unterrichte, interessiert mich nicht das perfekte ‘A’. Stattdessen zeige ich den Schülern Beispiele für ‘perfekte As’ und erkläre ihnen, dass dies nur der Ausgangspunkt für Design ist: Man lernt jahrzehntealte Regeln und findet dann einen Weg, sie zu interpretieren – man nimmt das, was man aus der Geschichte kennt, und macht es zu etwas eigenem, authentischen. Mir gefällt die Idee, den Leuten das Gefühl zu vermitteln (zumindest in ihrem Schreiben), dass sie sich erlauben können, loszulassen. Ich liebe Kritzeleien, Krakeleien und Geschmiere. In allem steckt Schönheit.“
Diese Überzeugung zeigt sich deutlich in Bettys Regenbogen aus farblich sortierten Kunstbüchern und Schmuckstücken, angeordnet auf ihrem Regalsystem 606, das sich über die einzige Wand entlang der Rückseite des Studios zieht. Die Renovierung eines so schönen, aber ungünstigen Raums stellte Betty vor die Herausforderung, alle Materialien unterzubringen, die sie Tag für Tag bei ihrer Arbeit inspirieren. Sie erinnert sich lächelnd: „Ich wusste, dass Vitsœ meine Rettung sein würde. Ich bin der Typ, der gerne viele Dinge um sich hat, um meine Fantasie zu beflügeln. Ich brauchte eine Lösung, mit der ich sie aufbewahren, ausstellen und kuratieren konnte – vor allem wollte ich sie neu anordnen können, wann immer ich Lust dazu habe. Wenn Leute zu Besuch sind, lautet ihr erster Kommentar immer: ‘Wow, du hast so viel Zeug’, aber weil alles wohlorganisiert im System aufgehoben ist, überwinden sie schnell ihren anfänglichen Schock und stehen vor den Regalen, um sich alles anzuschauen. Es ist eine Attraktion, keine Abschreckung. Es zieht einen hinein.“
„Ich erinnere mich gut an den Tag, als wir die Regale an die frisch gestrichenen Wände montierten und ich den Drang verspürte, etwas zu schreiben. Ich griff nach einem Stift und schrieb: ‘Danke, Universum’, weil mir dieser unglaubliche Raum zugefallen ist. Ich weiß, dass die Leute Angst haben, an Wände zu schreiben, ich bin da anderer Meinung. Aber ich bin natürlich Kalligraphin, also beschreibe ich gern alles Mögliche! Es steht immer noch da oben, irgendwo hinter einem Buch versteckt …“
Die Kirchenglocken in der Nähe läuten das Ende unseres Gesprächs ein – mit der Frage, ob Betty es jemals bereut hat, sich nicht ihren Verwandten in der Feuerwerkfertigung angeschlossen zu haben. Mit einem Grinsen sagt sie: „Es ist schwer zu glauben, dass etwas, das als Munition gedacht war, sich in Freude, Ehrfurcht und pure Emotion verwandelt. Meine Cousins verbringen Stunden damit, alles von Hand herzustellen, und dann gehen die Früchte ihrer Arbeit in wenigen Sekunden in Rauch auf! Sie sagen mir immer, dass sich die harte Arbeit auszahlt, wenn sie das Staunen in den Gesichtern der Menschen sehen. Für mich wirken die Explosionen immer, als würden sie in den Himmel geschrieben. Vielleicht habe ich mich deshalb für meinen Lebensweg entschieden. Eigentlich mache ich auch Feuerwerk – aber mit Tinte.“