Flexibles Arbeiten
Die akrobatische Tanzkompanie Motionhouse zu Gast bei Vitsœ in Royal Leamington Spa
Worte: Jana Scholze
Fotos: Dirk Lindner
Welche Verbindung besteht zwischen Vitsœ und Motionhouse? Weder der Möbelhersteller, noch die Tanzkompanie lassen sich über ihre Zugehörigkeit zur Design- oder Kulturindustrie definieren. In beiden Fällen wird die Zuordnung der Breite ihres Engagements nicht gerecht. Vitsœs Geschäftsführer Mark Adams betont immer wieder, dass sich sein Geschäftsmodell vielmehr als eine Denkweise oder Haltung begreifen lässt, da das Unternehmen die üblichen Verkaufsstrategien und -praktiken der Möbelbranche ablehnt. Die Kompanie Motionhouse ist in ganz ähnlicher Weise mit durch Konventionen geprägten Erwartungen ihres Publikums konfrontiert. Ihr Verständnis von Tanz geht von Bewegung im weitesten Sinne aus: Requisiten und narrative Strukturen spielen eine Rolle für Interventionen im Innen- und Außenraum – zu denen auch Pas-de-deux mit JCB-Baggern gehören. Louise Richards, eine der Gründerinnen, erklärt: „Eine Zeit lang haben wir die Kategorie Tanztheater herangezogen, um den performativen Aspekt unserer Arbeit hervorzuheben, doch dann sind wir ausgehend vom bewussten Einsatz von Akrobatik und Praktiken des Zirkus zum Begriff Tanzzirkus gelangt.“
Motionhouse war seit der Gründung 1988 in Royal Leamington Spa ansässig und tourt von der britischen Basis aus weltweit. Die Fähigkeit der Kompanie, als Teil der lokalen Gemeinschaft international zu agieren, war für Vitsœ ein wichtiges Zeichen, dass die Kurstadt im Herzen Englands die richtigen Qualitäten für das neue Zuhause des Unternehmens bot. Das Zuhause, das Vitsœ und Motionhouse jetzt teilen.
Eine zufällige Begegnung vor fünf Jahren hat schnell verwandte Interessen und Werte aufgedeckt und eine wechelseitige Faszination für die Arbeit des jeweils anderen geweckt. Aus der Fortsetzung des Dialogs entwickelte sich die Idee, Vitsœs neuen Raum zu teilen – ein Abenteuer. Oder wie es Richards formuliert: „Die meisten Dinge im Leben sind Experimente. Unsere Praktiken sind sehr verschieden, aber gleichzeitig eng beieinander. Die Energie und Leidenschaft, die in dieses Gebäude geflossen sind, sind ansteckend. Und so wird das Vitsœ-Gebäude das erste Zuhause von Motionhouse für die Kreation neuer Arbeiten.” Das Wort Zuhause zeigt bereits, dass der Einzug keineswegs als geschickte Untervermietung verstanden wird, sondern als eine Einladung, diesen „Ort des Machens” gemeinsam zu gestalten, wie Richards ihn nennnt. Um dies zu ermöglichen, konzipierte Vitsœ ein Gebäude, das Raum für Offenheit, Transparenz und glückliche Zufälle bietet.
Die Beförderung von Interaktion soll nicht allein improvisierte Treffen ermöglichen, sondern auch für mehr Bewegung aller im Raum sorgen. So sind die alltäglichen Routinen als direkte Reaktion auf die gesundheitlichen Auswirkungen einer sitzenden Lebensweise gestaltet: Lange Sitzperioden werden durch aktivitätsfördernde Arbeitsprozesse unterbrochen, statt allein auf Effizienz zu setzen. Die Möbelmontage findet am südlichen Ende des Gebäudes in der Nähe des Eingangs statt. Der Ort für Essen und Gespräche liegt mehr als 100 Meter entfernt am nördlichen Ende. Hier sind Objekte aus dem Vitsœ-Archiv ausgestellt, während im Zentrum des Gebäudes der Probenraum von Motionhouse eingerichtet wurde, der diese pulsierende Atmosphäre um eine physische und emotionale Dimension erweitert. Aber das räumliche Arrangement kann sich mit den Anforderungen beider Unternehmen jederzeit verändern – das Gebäude funktioniert nach dem Prinzip der Anpassungsfähigkeit.
Durch Akquise einer Kapitalfinanzierung des Arts Council England hat Motionhouse die Einrichtung des gemeinam bewohnten Raums ermöglicht – dank der Förderung konnten Tanzböden und Traversen für die Beleuchtung installiert werden.
Auch wenn die räumlichen Voraussetzungen stimmen, braucht es für dieses Joint Venture gegenseitigen Respekt und Verständnis für die Bedürfnisse der anderen – mögliche Schwierigkeiten müssen Motionhouse und Vitsœ gemeinsam meistern. „Uns war nicht bewusst, wie laut wir in den Proben und beim Training sind“, sagt Richards. „Das kann ein Problem werden, wenn jemand ein ruhiges Gespräch mit einem Kunden in einem anderen Teil des offenen Raums führen möchte. Beim Diskutieren verschiedener Lösungswege stellten wir fest, dass der beste Weg zur Überwindung solcher Probleme ein enger Dialog ist. Termine haben eine gewisse Flexibilität und beide Seiten sind bereit sich anzupassen.”
Der Dialog ist ein wichtiges Scharnier dieses Projekts, das die Beziehung zwischen Wirtschaft und Kunst neu denkt. Eine gewisse Resistenz gegenüber Industrienormen spürt man in der Philosophie beider Unternehmen. Ihre alternativen Positionen ergeben sich aus der Skepsis gegenüber Konventionen und dem Wunsch, soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Werte zu schaffen.
Vitsœs “No sale”-Kampagnen zeigen die Grundsätze einer Unternehmensphilosophie, die ein besseres Leben mit weniger, das länger hält, verspricht. Dieser humanistische Ansatz widersetzt sich der neoliberalen Idee, dass Erfolg allein durch Wachstum von Produktion und Profiten definiert wird. Die Kollaboration mit Motionhouse könnte diese Entschlossenheit von Vitsœ noch verstärken, denn die Performances der Tanzkompanie wurzeln in der genauen Beobachtung unserer Welt und sind getragen von der Sorge um ihre Bewohner.
Motionhouse brachte als eine der ersten Kompagnien Performances in den öffentlichen Raum, um einen niederschwelligen Zugang zur Kunst zu ermöglichen und soziale Verantwortung zu demonstrieren. Beide Unternehmen haben auf ihrem Gebiet neue Praktiken entwickelt – ihrer geteilten Überzeugung folgend, dass meschliche Bedürfnisse an erster Stelle stehen. Sich zusammenzutun, ist ein radikales, optimistisches Projekt.
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Jana Scholze ist Kuratorin mit Fokus auf zeitgenössischem Design als kuratorische Praxis und Theorie. Nach mehr als einem Jahrzehnt am V&A ist Scholze nun Associate Professor und Kursleiterin des MA Curating Contemporary Design Programms an der Kingston School of Art in London.