Gute Vorsätze
Joel Chen erzählt von einem Leben als zwanghafter Sammler.
Worte und Fotos: Vitsœ
„Unser ganzes Leben wird von Erinnerungen zusammengehalten – wir reisen, kaufen Dinge auf dem Weg …“, beginnt Joel Chen das Gespräch. In Shanghai geboren, in Hongkong aufgewachsen und in Großbritannien ausgebildet, ließ er sich in den 70er Jahren in Los Angeles nieder, wo seine Karriere als Antiquitätenhändler begann. Chens selbst angeeignetes, enzyklopädisches Designwissen wurzelt in einer lebenslangen Schatzsuche auf sämtlichen Flohmärkten dieser Welt. Seine geräumigen Geschäfte sind vollgepackt mit einer eklektischen Auswahl an Möbeln, Textilien, Beleuchtung und Kunst.
Chens wachsender Kundenkreis (ein Who’s Who der Westküste) ist längst daran gewöhnt, Raritäten des 18. Jahrhunderts neben Mid Century-Klassikern zu finden. „Mich interessiert einfach alles. Manchen Leuten erscheint die Kombination der Möbel ironisch oder humorvoll … aber sie funktioniert“, erzählt er. „Als ich anfing, war ich ein chinesischer Händler, dann weitete ich meinen Fokus auf asiatische Antiquitäten aus und entwickelte langsam eine Liebe für europäische Stücke.“ Chens Läden folgen keiner „weniger, aber besser“-Philosophie – im Gegenteil, er ist ein Maximalist. „Das Sammeln ist meine Leidenschaft und mein Problem“, gibt er zu.
Der Transport? „Ein Albtraum“, sagt Chen. „In den ersten 20 Jahren habe ich von jedem Ort, an dem ich war, einen Container zurück nach L.A. verschifft. Einkäufe aus Ostblock-Ländern waren logistisch am kompliziertesten, aber ich habe mich nie vom Papierkram aufhalten lassen – solche Herausforderungen reizen mich. Für mich ist die ganze Welt eine Schatzkiste.“
„Ich bin immer auf der Suche nach neuen Dingen, es gibt immer etwas zu kaufen. Aber in letzter Zeit habe ich angefangen, meine Kaufimpulse besser zu kontrollieren.“ Die Versuche, seine Sammlung zu reduzieren, mündeten in die Vorbereitungen einer Auktion bei Christie’s New York, in deren Rahmen am 13. Februar über 300 Lot asiatische Kunst, Mid Century-Möbel, Keramik und Schnitzereien im Rockefeller Center unter den Hammer kommen.
Aber Mäßigung ist nicht einfach, wenn man einen Ruf wie Chen hat – der ihm unaufhörlich Angebote beschert. „Leute aus der ganzen Welt schreiben mir E-Mails und SMS, weil sie wissen, wie verrückt ich bin!“
Chen versucht, seine lebenslange Sammelleidenschaft zu verstehen: „Meine Besitztümer zu reduzieren, mich von einigen zu trennen, steht seit langer Zeit auf meiner Liste. Aber es scheint mir unmöglich, anzufangen, und es frustriert mich, dass ich es immer wieder hinausschiebe“, verrät er. „Ich denke, das ist der Grund, warum ich die Arbeit von Dieter Rams so bewundere. Dieter hält sich an seine eigene Philosophie – das sieht man deutlich an Fotos von seinem Haus. Ich denke, er ist ein Genie. Er ist nie von seinen zehn Thesen abgewichen, seit den ersten Entwürfen für Vitsœ und Zapf. Er arbeitet konsequent und geradlinig auf demselben Weg – was in der heutigen modernen Welt sehr schwierig ist.“
2017 machte Chen seine Liebe zu Rams publik – mit einer Retrospektive in seinem Laden in der Highland Avenue in Los Angeles, die eine Auswahl von Produkten für Vitsœ und Braun versammelte. Er verbrachte zwei Jahre damit, Beispiele für Rams’ wegweisende Haushaltsgeräte aufzuspüren und fand den Großteil in Italien, Deutschland und der Schweiz. Nachdem er über ein Jahr lang versucht hatte, einen tragbaren Plattenspieler TP 1 zu finden, gelang es ihm schließlich.
Chen lacht, während er die Geschichte erzählt: „Der einzige, den ich finden konnte, war im New Yorker MOMA – den durfte ich natürlich nicht ausleihen. Also habe ich weiter bei eBay Deutschland Ausschau gehalten und tatsächlich einen Tag vor der Ausstellungseröffnung einen gefunden. Er gehörte einem jungen Mann, der ihn von seinen Eltern geerbt hatte und der sehr genau wusste, wie selten er war. Er lebte in einem kleinen abgelegenen Dorf auf der deutschen Seite der Schweizer Grenze. Als ich ihn anschrieb, um den Verkauf zu arrangieren, schrieb er zurück: „Sorry – ich klettere gerade auf einen Berg“. Ich wurde schier verrückt und flehte ihn an, FedEx schicken zu dürfen, um den Plattenspieler abzuholen. Schließlich schickte er ihn an einen Freund in München, der freundlicherweise alle Versand- und Exportpapiere arrangierte, sodass wir ihn noch ausstellen konnten.“
Die Ausstellung brachte Chen ins Nachdenken darüber, warum diese Alltagsgegenstände heute mit so viel Ehrfurcht betrachtet werden – und dass Rams sicher nicht damit rechnen konnte, dass Menschen sich einmal für eine Ausstellung von Kaffeemaschinen, Rasierapparaten und Radios begeistern würden. Für ihn liegt der Grund in einer nostalgischen Sehnsucht nach Greifbarem: „Die Welt dreht sich zu schnell, und wir versuchen alle aufzuholen. Bald wird es selbstfahrende Autos geben, künstliche Intelligenz, Gesichtsidentifizierung. In der Rams-Ära war alles analog, jetzt sind wir alle digital. Die Technologie der Braun-Geräte mag veraltet sein, aber das Design ist zeitlos.“
„Ich gebe zu: Ich verehre Dieter Rams – und momentan wünschte ich mir, ich könnte mehr sein wie er. Seine Disziplin ist mir ein Vorbild. Gerade letzte Woche saß ich in einem 620 Sessel und sprach mit Rob Fissmer von Vitsœ LA. Ich dachte an meine anderen Vintage-Ledersessel zuhause und wie das Material mit der Zeit verhärtet. Aber nicht so bei diesem – er war so bequem wie eh und je. Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich: Mehr als ein paar dieser Vitsœ-Sessel brauche ich doch gar nicht! Am Ende überdauert gutes Design und bleibt für Generationen relevant.“