Ein Stück Utopie
Anton Rodriguez hat in fünf verschiedenen Wohnungen im Barbican gelebt. Sie haben ihm neue berufliche Perspektiven eröffnet und ihn für immer mit dem Gebäudekomplex verbunden.
Worte: Leanne Cloudsdale
Fotos: Anton Rodriguez
„Von innen ist es gar nicht brutal!“ lacht Anton Rodriguez. Der Fotograf erzählt, wie das Barbican Estate ihm einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnet hat. In Deutschland geboren und in Merseyside in England aufgewachsen, zog er 2010 nach London, um ein Praktikum bei einem kleinen Modeunternehmen zu absolvieren. Obwohl er erst im zweiten Jahr seines Modedesign Studiums für Herrenbekleidung war, wurde ihm sechs Wochen nach Beginn des Praktikums eine volle Stelle angeboten. Die Entscheidung, die Universität ohne Abschluss zu verlassen, fiel ihm nicht leicht, aber rückblickend kann er sagen, dass es eindeutig die richtige Entscheidung war.
Plötzlich ein echter Londoner, musste er nun auch eine Wohnung finden. Als Anton und seine Partnerin Laura von einem Immobilienmakler auf eine Wohnung im Barbican aufmerksam gemacht wurden, sagten sie zu und gingen zur Besichtigung. Mit einem Grinsen sagt Anton: „Wir hatten keine Ahnung, was das Barbican ist. Ich war damals erst 23 und als wir diese riesigen, imposanten Gebäude sahen, wussten wir nicht, was wir davon halten sollten. Ich hatte meine Kindheit in Kirby verbracht, einem Vorort von Liverpool, in dem es viele Nachkriegssiedlungen gibt, und hatte daher keine großen Erwartungen an die Wohnung, die wir besichtigen sollten. Aber als wir drinnen waren, waren wir sprachlos. Ich weiß noch, wie ich dachte: ‘Wow, was ist das für eine Wohnung?’. Es war unglaublich. Zwei Wochen später sind wir eingezogen.“
Das Barbican Estate, das oft als „Stadt in der Stadt“ bezeichnet wird, wurde 1965 von den drei jungen Architekten Chamberlin, Powell and Bon entworfen und im Jahr 1982 von der Königin offiziell eröffnet. Die unverwechselbaren Betonwände der 42-stöckigen Wohntürme und angrenzenden Terrassenblöcke sind ein markanter Teil der Londoner Skyline, wo sie auch ein halbes Jahrhundert später noch die Gemüter spalten. Der Gebäudekomplex steht heute unter Denkmalschutz – zur Erleichterung der Anhänger des Brutalismus und zum Ärger derer, die ihn hässlich finden.
Anton liebt das Barbican vor allem wegen seines Innenlebens. Das Labyrinth von Gebäuden und Gehwegen, die nur den Bewohnern vorbehalten sind, fühlte sich zuerst an wie eine andere Welt – ganz anders als seine erste Wohnung in einem viktorianischen Reihenhaus im benachbarten Clerkenwell. Er erinnert sich: „Als Kind sah ich diese bedrohlich wirkenden Parkhäuser aus den 60er Jahren und fand sie ganz schrecklich. In der Schule lernten wir, Dinge wertzuschätzen, die für „guten Geschmack“ stehen und ich muss gestehen, dass das Barbican mich anfangs an diese Parkhäuser erinnerte. Aber als ich in die Wohnung einzog und mit den großen Fenstern, Schiebetüren und der kompakten Edelstahlküche (die von Bootsbauern entworfen wurde) lebte, veränderte sich meine Sichtweise. Nie zuvor hatte ich in einer Wohnung gelebt, die so ruhig und so lichtdurchflutet war. Man merkte gar nicht, dass man sich im Herzen Londons befand.
„Früher bin ich oft mit meiner Kamera durch die Siedlung gestreift und habe immer wieder neue Dinge entdeckt. Ich habe das Kulturzentrum besucht, das Kino, bin durch die Gärten geschlendert und habe die Gegend erkundet. Obwohl ich mich vorher nie für moderne Architektur interessiert hatte, las ich plötzlich Bücher darüber. Es war zu dieser Zeit, dass ich mein erstes Vitsœ-Regal gekauft habe. Sobald es installiert war, sah es aus als wäre es schon immer da gewesen. Nahtlos.“
Der gemeinschaftliche Aspekt des Zusammenlebens im Barbican war ebenfalls eine Überraschung. Der Müll wird täglich von einem Schrank neben der Eingangstür abgeholt. Die Fußbodenheizung wird zentral gesteuert und schaltet sich im Einklang mit den Jahreszeiten ein und aus. Ein rosafarbener Zettel im Briefkasten bedeutet, dass man seine Post abholen soll, die vom Concierge sicher verwahrt wird. „Um alles wird sich gekümmert. Ein kleines Stück Utopie. Es lebt sich sehr einfach dort.“
Als seine Neugier wuchs, las er zufällig einen Artikel über eine Förderinitiative der Foto-App VSCO, die Kreative aufrief, sich mit Ideen für künstlerische Projekte zu bewerben. Anton sagt: „Es war eine gute Gelegenheit, mit meiner Fotografie etwas Professionelles zu machen. Mit dem Geld könnte ich neue Objektive oder eine Ausrüstung kaufen – ich musste mir nur eine Projektidee ausdenken. Der Aha-Moment kam, als ich ein paar Tage später an der Tür meines Nachbarn vorbeiging, die einen Spalt offenstand. Ich wagte einen Blick hinein und sah die unglaubliche Decke mit dem Tonnengewölbe (das unsere Wohnung nicht hatte). Da kam mir der Gedanke, dass ich mich gerne mal so richtig umsehen und die anderen Wohnungen im Barbican von innen sehen wollte. Ich hatte meine Idee gefunden.“
Er wurde gefördert und fand 25 Bewohner und Bewohnerinnen, die bereit waren, am Projekt teilzunehmen. Seine Bilder fielen der Leitung des Barbican-Shops auf, die der Meinung war, dass die Fotos und Geschichten ein tolles Buch abgeben würden. Als Residents: Inside the Iconic Barbican Estate im Jahr 2016 veröffentlicht wurde, änderte sich Antons Leben fast über Nacht. Millionen von Menschen wussten, wie das Barbican von außen aussah, aber sehr wenige hatten das Glück zu sehen, wie es sich darin wohl lebt. Er sagt mit einem Lächeln: „Für mich ging es sehr schnell mit der öffentlichen Aufmerksamkeit. Alle großen britischen und europäischen Zeitungen riefen mich an und baten mich um ein Interview. Marken, Möbelmagazine und schicke Restaurants gaben Fotoshootings in Auftrag. Es kam der Punkt, dass ich meinen Job aufgeben konnte und die Fotografie zu meinem Beruf wurde.“
Anton und Laura lebten bis vor kurzem sehr zufrieden im Barbican, sukzessive in fünf verschiedenen Wohnungen, jede mit ihrem ganz eigenen Grundriss. Erst nach einem längeren Aufenthalt in Liverpool und einer Veränderung in ihren Familienverhältnissen änderte sich ihre Perspektive. Der Aufenthalt bei seiner Familie in der Nähe des Lake District und von Wales ließ ihn die Nähe zur Natur wieder schätzen. Mittlerweile verheiratet, sehnte sich das Paar nach einem eigenen Garten und mehr Platz, um von zu Hause aus zu arbeiten.
„Wir wussten immer, dass unsere Zeit im Barbican irgendwann vorbei sein würde. Ursprünglich sollten die Wohnungen im Komplex erschwinglich bleiben, aber das ist nicht mehr der Fall. Wir haben mit dem Gedanken geliebäugelt, nach Nordengland zu ziehen. Unsere Arbeit ist jedoch hier in London, deshalb war das nicht möglich. Kent war unser Kompromiss. Jetzt haben wir ein kleines Haus im Umland mit Garten und Grill, einen Dackel und ein Baby auf dem Weg!
Ich vermisse das Barbican. Heute besuche ich es nur noch für Fotoshootings oder um Ausstellungen zu besuchen. Das Leben im Wohnkomplex war eine wichtige Phase in meinem Leben. Ich wurde dort erwachsen und habe meine Liebe zur modernen Architektur und zu modernen Möbeln entdeckt. Das Barbican hat mich „kultiviert“. So sehr ich die Besonderheiten unseres Lebens dort vermisse – wenn ich irgendwann wieder dorthin zurückziehen würde, würde ich doch die Vorteile unseres Lebens hier vermissen. Auf einer Bank im Barbican zu sitzen und die Welt vorbeiziehen zu sehen war toll, aber mit einem guten Buch in meiner Hängematte hier im „Garten von England“ zu liegen, ist noch besser.“