Hinter den Zines
Leben und Arbeit des Verlegers Benjamin Sommerhalder
Worte: Kassia St Clair
Fotos: Nicole Bachman
„Ich habe immer davon geträumt, einen eigenen Verlag zu haben.“ Benjamin Sommerhalder zögert. „Aber die Idee schien… nicht ganz ein Witz, aber doch verrückt. Man denkt an Diogenes hier in Zürich, oder Taschen, und es ist absurd, sich vorzustellen, dass man als Einzelner, mit Anfang zwanzig, so etwas aufbauen kann.“
Wenn es jemals absurd erschien, ist es das schon lange nicht mehr. Sommerhalder ist jetzt 45 Jahre alt und seit 2001 der alleinige Inhaber, Kreativdirektor und Leiter des Nieves Verlags. Als wir sprechen, sitzt er in seinem Büro, einem von zwei Räumen – der andere beherbergt das Geschäft – im winzigen Hauptquartier von Nieves in einer hippen Zürcher Straße, gleich um die Ecke des Cafés Bros Beans & Beats. Er spricht leise, ist zurückhaltend aber freundlich. Er lacht viel, meistens über sich selbst. Jedes Mal, wenn ich ihm eine Frage stelle, hält er so lange inne bevor er antwortet, dass ich anfange zu zweifeln, ob er mich gehört hat. Es dauert ein paar Minuten bis ich mich darauf eingestellt habe, wie viel Raum er zum Nachdenken lässt.
Heute produziert Nieves mehrere Künstlerbücher und etwa 20 Künstler-Zines pro Jahr, in der Regel mehrmals im Jahr in kleinen Auflagen. „Als wir anfingen, waren es drei Zines im Monat, aber jetzt ist es eher sporadisch: Alle drei Monate bringen wir um die fünf heraus.“ An dem Tag, an dem wir sprechen, sind bereits drei erschienen. Es gibt keinen starren Produktionsplan, an den man sich halten müsste: Sommerhalder, und manchmal ein Praktikant oder eine Praktikantin, können sich ganz nach den Arbeitsrhythmen der Künstler und Künstlerinnen richten, mit denen sie arbeiten. Für diejenigen, die Nieves Zines sammeln – und Sommerhalder hat sich eine Art Kultanhängerschaft aufgebaut – sind es Serien, obwohl jedes Werk auch für sich stehen kann. Sie haben das Format A5, sind geheftet, ungefähr gleich lang und werden in limitierter Auflage von bis zu 150 Exemplaren mit einem Schwarz-Weiß-Fotokopierer gedruckt; die Künstler und Künstlerinnen können die Papierfarben frei wählen. Der Inhalt jeder Ausgabe ist einzigartig. „Es sind Künstler und Künstlerinnen aus Japan, der Schweiz oder irgendwo auf der Welt: sie haben nichts gemeinsam“. Zu den Künstlern und Künstlerinnen, die bereits eine Nieves-Publikation vorweisen können, gehören Ari Marcopoulos, Kim Gordon von Sonic Youth, Yukari Miyagi, Rita Ackermann, Stefan Marx und der amerikanische Skateboarder und Illustrator Ed Templeton.
Zines haben ihren Ursprung in der Welt der Science-Fiction Fan-Gemeinden der 1930er Jahre und wurden zu einem Ort, an dem Menschen Ideen austauschen und miteinander arbeiten konnten. Eine Generation später etablierten sie sich in den Gegenkulturbewegungen der 1960er und 70er Jahre, vor allem in den USA, wo sie von der Beat- und Punkszene übernommen wurden und dazu beitrugen, Gleichgesinnte im ganzen Land miteinander zu verbinden. Für Sommerhalder waren es die Geschwindigkeit, Flexibilität und die geringen Kosten der Zines, die ihn anzogen. Noch während seines Kunststudiums in Zürich begann er mit der Produktion eines Magazins namens Zoo, doch der Zeit- und Kostenaufwand dieser Arbeit enttäuschte ihn. Auf einer Reise nach Japan, während eines Besuchs in einem Tower Records Store in Tokio, stieß Sommerhalder auf ein Zine des amerikanischen Künstlers Chris Johanson, das ihn inspirierte. „Ich habe mich wirklich in das Konzept dieser kleinen Bücher verliebt: Man braucht nicht viel Geld, man kann sie schnell selbst zusammenstellen. Alles, was man braucht, ist ein Copy-Shop.“
Obwohl Nieves vor allem für seine Zines bekannt ist, brachten Sommerhalders Genauigkeit und sein weitreichender Kunstgeschmack ihn auch bald dazu, Bücher zu produzieren. „Ich bin kein Fan von Farbkopierern. Ich mag die Qualität einfach nicht: die Seiten fühlen sich glänzend und schmierig an. Und die Farben sind wirklich nicht schön.“ Das wurde zum Problem, als er auf Künstler traf, deren Arbeit Farbe erforderte. „Jetzt kann ich sie bitten, ein Offsetbuch oder vielleicht eine Risographie zu produzieren, die so eine tolle Struktur hat, und mit Farben fast wie beim Siebdruck.“
Sommerhalder lässt sich bei allem, was er tut, von Qualität, Einfachheit und Instinkt leiten. Sein eigener Geschmack bestimmt die Auswahl. „Ich sage immer, dass es mich berühren muss, aber das ist schwierig, weil es so viele großartige Sachen gibt“. Manchmal trifft er die Künstler und Künstlerinnen persönlich, aber die meiste Kommunikation findet per E-Mail statt. Er mag es, wenn seine Publikationen einfach sind und sich mit einem bestimmten Thema befassen, ohne ablenkende Kommentare oder überflüssigen Text. Besonders stolz ist er auf eine kürzlich erschienene Risograph-Publikation mit dem in Göteborg ansässigen Designer Andreas Samuelsson, dessen Arbeiten von der Titelseite der New York Times bis hin zu Aesop-Verpackungen überall zu sehen sind. „Wir haben bereits bei einem Buch mit ihm zusammengearbeitet und dachten, wir könnten ein Zine machen, haben uns dann aber für eine Risographie entschieden. Es ist zwar nur schwarz-weiß, aber es ist total gut geworden“, schwärmt er. „Allein die Tinte auf dem Papier, die Struktur und die Qualität des Drucks…“
Diese minimale Ästhetik spiegelt sich in den Räumen wider, in denen er lebt und arbeitet. Das Büro und das Geschäft von Nieves, die beide komplett mit Vitsœ-Möbeln eingerichtet sind, liegen nur fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt. Er ist stolz darauf: Er ist erst vor sechs Monaten eingezogen. Eine Verbindungstür führt zum Bekleidungsgeschäft „by“, das ebenfalls mit Möbeln von Vitsœ ausgestattet ist. Davor hatte er immer an Orten gearbeitet, die eher provisorisch waren. „Einer fühlte sich an wie ein besetztes Haus, ein anderer war in einem alten Haus, das abgerissen werden sollte.“ Dieses Geschäft jedoch, sagt er, sei ein „richtiger Laden“, der dem Geist seiner eigenen Lieblingsbuchläden entspricht, auch wenn er nur Nieves’ eigene Publikationen verkauft. Im Gespräch mit Sommerhalder wird deutlich, dass seine Arbeit bei ihm immer noch die gleiche Ehrfurcht und den gleichen Stolz auslöst, die er bei der Gründung von Nieves empfand. „Es ist nervenaufreibend, ein Buch oder ein Zine von der Druckerei zurückzubekommen. Das Gefühl, die Kartons zu öffnen, ändert sich nie. Manchmal lasse ich sie einen Tag oder so stehen, und wenn ich mich dann bereit fühle, kann ich sie öffnen. Er hält inne, als würde er gerade auf ein paar ungeöffneten Kartons zu seinen Füßen blicken. „Es ist großartig, wenn sie ankommen und einfach perfekt sind, so wie sie sein sollen. Das ist immer ein glücklicher Moment.“