Kette und Schuss
Wo Arbeitsmethoden sich über Farbe, Garn und Raumwissen verflechten

Worte: Jane Audas

Fotos: Vitsœ

Jennie Moncur, Gobelin-Künstlerin. Jennie Moncur, Kreativdirektorin, Vitsœ. Im Folgenden werde ich versuchen, die beiden Aspekte ihrer Karriere zu enträtseln (oder „auszupacken“, um eine Vitsœ-Metapher zu benutzen). Lesen Sie bitte weiter…

Manche kennen Jennie als Weberin, manche kennen sie über ihre Arbeit bei Vitsœ, aber nur wenige in ihrem Kollegen- und sogar Freundeskreis wissen wirklich über die Doppelnatur ihrer Arbeitswoche Bescheid. Vielleicht haben Sie schon einmal den einen oder anderen Wandteppich von Jennie in einem Vitsœ Geschäft gesehen; ein kleiner Ausbruch von Farbenpracht inmitten all dem RAL 9002 Grauweiß. Aber in ihrer offiziellen Rolle bei Vitsœ ist sie bisher eher diskret geblieben. Es scheint deshalb angemessen, nach den letzten ereignisreichen Jahren, die sie bei uns verbracht hat, etwas mehr über sie zu erzählen und ihre Erfolge zu feiern. Und darüber zu spekulieren, wo ihre Arbeitsmethoden aufeinandertreffen, wie Sie sich verflechten (oder auch nicht) und wo sie sich ergänzen. Aber dazu muss ich mit anderen Menschen sprechen – denn Jennie, wo auch immer sie gerade ist, zuckt in diesem Moment vielleicht ein bisschen zusammen bei all diesen Worten. Es ist nicht ihr Stil, über das, was sie tut zu sprechen.

Der Boden und die Farben des Vitsœ Geschäfts in New York

Jennie befasst sich mit allem, was die Vitsœ-Kernprodukte umgibt: die Gestaltung der Geschäfte, Ausstellungen und Events, Printmaterial, Website und Redaktion. Und Farben. Oh die Farben. In den Geschäften, auf Broschüren, Katalogen und Sesselbezügen. Kunden und Kundinnen erkundigen sich oft nach den Farben, in denen die Wände der Vitsœ Geschäfte gestrichen sind, und streichen ihre Wohnungen dann in denselben Tönen. Das ist Jennie. Vitsœs Geschäftsführer Mark Adams stellt fest: „Man kann jede Farbe, die in den letzten drei Jahrzehnten in der Vitsœ-Welt aufgetaucht ist, auf Jennie zurückführen.“ Man muss nur ihre Wandteppiche anschauen um zu sehen, woher ihr Sinn für Farbe kommt; sie ist Farbenkünstlerin durch und durch, bis ins Herz. Die Gobelins sind architektonisch und abstrakt, farbenfroh und oft von der Natur inspiriert. Im Übrigen war Jennies Designpraxis nie nur auf Textilien beschränkt, obwohl Wandteppiche immer im Mittelpunkt standen.

Die Princes Drive Brücke in Leamington Spa

Technisch ist Jennie eine vollendete Meisterin, die gedanklich nahtlos zwischen 2D und 3D hin und her wechseln kann. Von Garn zu pulverbeschichtetem Stahl und wieder zurück. Von Anfang an ging es in ihrer Arbeit um Raumbewusstsein. Ihre Praxis erstreckte sich über den Webstuhl hinaus auf andere Designarbeiten, von Teppichböden hin zu dekorativen Entwürfen für Böden und Brücken. Die Eisenbahnbrücke neben dem Vitsœ Produktionsgebäude in Leamington Spa in England wurde vor Kurzem mit einem ihrer Entwürfe verkleidet und ist damit die 23. oder 24. Brücke, an der sie gearbeitet hat. So ganz genau weiß sie es nicht mehr. Direkt nach ihrer Diplomausstellung am Royal College of Art bekam sie den Auftrag, neue Linoleumböden für das Institute of Contemporary Arts in London zu gestalten. Und so zu den Böden bei Vitsœ. Die Geschäfte in New York, London und Leamington Spa haben Böden, die von Jennie gestaltet wurden; sie sind typisch für Jennie und gleichzeitig typisch für Vitsœ. Und sie zeigen auf eine sehr greifbare Art, wie einflussreich sie als Kreativdirektorin ist.

Der Boden und die Farben des Vitsœ Geschäfts in London

Jennie arbeitet gerne organisiert, detailliert, exakt. In beiden Aspekten ihrer Karriere. Als Kunsthandwerkerin ist sie, wie Mark sagt, „unglaublich praktisch und gut organisiert, extrem verständig.“ Diese Arbeitsweise hat sich auch bei Vitsœ bewährt. In einer Firma, in der es normal ist, ein ganzes Meeting (oder auch mehrere) über den Durchmesser einer Schraube abzuhalten, ist es wichtig, jemanden zu haben, die das größere (oder kleinere) Ganze im Blick hält. Julia Schulz, eine Kollegin, die eng mit Jennie zusammenarbeitet, erklärt: „Sie hat auf eine stille Art großes Vertrauen in ihren kreativen Prozess. Sie ist keine Primadonna. Sie weiß genau, was sie will und was sie nicht will. Es gibt immer ein Gespräch, aber an einem bestimmten Punkt ist klar: So ist es.“

Wer Jennie kennt weiß, wie wichtig ihr die Zeit am Webstuhl ist. Natürlich webt sie dann, aber es ist auch Zeit zum Nachdenken, zum Planen und vielleicht auch Zeit, in der sie ihre Welt in Ordnung bringt. Ihr Platz am Webstuhl erdet sie. Wenn man mit anderen über Jennie spricht, hört man immer wieder Worte wie „selbstbewusst“ und „unabhängig“. Scheinbar ist es die Zeit, die sie allein in ihrem Atelier verbringt, die diese Qualitäten hervorbringt und nährt. Der Bau des neuen Vitsœ Produktionsgebäudes in Leamington Spa war bezeichnend, erzählt Mark Adams: „Die Zeit zum Nachdenken ist manchmal wichtiger als die Zeit zum Weben. Die wichtigsten Gespräche, die Jennie und ich während des Baus dieses Gebäudes geführt haben, fanden statt, wenn Jennie vom Weben zurückkam und sagte, „Ich habe darüber nachgedacht…“

Jennie mit ihrem Webstuhl

Es gibt sicher nicht viele andere Unternehmen, die eine Kunsthandwerkerin als Kreativdirektorin haben. Dass es so gut funktioniert, liegt auch an der Frau selbst. Das erfolgreiche Gleichgewicht zwischen ihren beiden Rollen kann auf Design oder auf Systemdenken zurückzuführen sein. Es bildet das Rückgrat der Prozesse bei Vitsœ und ist auch für Jennies gut organisierte Arbeitsmethoden verantwortlich. Für sie macht es keinen großen Unterschied, ob sie das Layout eines Geschäfts oder die Farben für eine Webarbeit komponiert. Beides muss stimmen und beides wird mit einer konstanten und beständigen Gründlichkeit angegangen.

Und schließlich muss man wissen, dass Jennie auch all das organisiert, was sie sammelt und aufhebt. Sie hat sämtliche Arbeiten aus ihrem Studium aufbewahrt, führt ein Archiv ihrer Webarbeiten und dokumentiert alle ihre Arbeitsprozesse. Das hat sie schon immer getan. Wenn man Vitsœ kennt, weiß man, wie wichtig hier die Details sind. Das ganze Unternehmen nährt sich aus seinem Archiv. Wenn man das berücksichtigt, erscheinen die Gegensätze in Jennies Arbeitsleben nicht mehr so ungewöhnlich. Einfach ausgedrückt hat sie – in beiden Arbeitsbereichen – einen Platz für jedes Ding und bringt alles an seinen Platz. Das Wort “kreativ” ist explizit in ihrer Rolle als Kreativdirektorin bei Vitsœ und implizit in ihrer Rolle als Künstlerin und Kunsthandwerkerin. Aber es ist klar, das Kreativität für beide Rollen ganz fundamental ist.

„Ripple and Ribes“ Gobelin von Jennie Moncur

Die Ausstellung „Jennie Moncur: Interrupted Views“ wird am 16. Juli im Ruthin Craft Centre in Wales eröffnet. Die Einzelausstellung, die sowohl neue als auch einige ältere Arbeiten umfasst, ist eine seltene Gelegenheit, Jennie Moncurs exquisite Gobelins öffentlich ausgestellt zu sehen. Die Ausstellung wird anschließend in der Harley Gallery des Portland Collection Museum in Nottinghamshire, England, zu sehen sein.

Jennie Moncur: Interrupted Views

16 Juli – 25 September 2022

Ruthin Craft Centre,
Park Road,
Ruthin,
Denbighshire,
Wales
LL15 1BB

25 März – 18 Juni 2023

The Harley Gallery,
Welbeck,
Worksop,
Nottinghamshire,
England
S80 3LW